Antwort:
Der Text selber liefert einige Hinweise dafür, dass es sich bei Abrahams Bereitschaft Isaak zu opfern nicht um ein heidnisches Ritual gehandelt haben kann.
Erstens wollte Abraham offenbar nichts mit seinem Opfer erreichen. Anders als bei Jeftahs Gelübde in Richter 11,28ff ging es bei der Opferung Isaaks nicht darum, einen Sieg zu erkaufen oder Gott mit einem Opfer gnädig zu stimmen. Es war die gehorsame Tat aufgrund des direkten Befehls Gottes. Das spricht gegen ein Handeln gemäß einem Menschenopferritual.
Zweitens hielt Abraham sein Vorhaben geheim. Wäre es ein heidnisches Ritual gewesen, dann wäre es das aller normalste, dass er das Opfer mit seinen Dienern als Zeugen dargebracht hätte oder innerhalb eines großen Festes. Die private Opferung passt ganz und gar nicht zu allen bekannten heidnischen Menschenopfern.
Drittens: Isaak selbst wusste nicht, was sein Vater vorhatte. 1Mo 22,7: „Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?” Wäre das Menschenopfer ein normaler Teil der Kultur Abrahams gewesen, dann hätte Isaak, der ein junger Mann war, davon gewusst. Aber für ihn war ganz normal, dass ein Schaf geopfert wird.
Die Aufforderung Gottes an Abraham, seinen Sohn Isaak als Brandopfer zu opfern, ist aus menschlicher Sicht trotzdem völlig unverständlich. Darum müssen wir besonders darauf achten, wie die Bibel die Sache schildert. Vers 1 ist Überschrift: Gott will Abrahams Vertrauen und Gehorsam zu prüfen. Wird er seinen inzwischen jugendlichen Sohn noch als Geschenk Gottes ansehen, dass ihm Gott wieder nehmen darf (16)? Wird er auf Gottes Güte vertrauen, auch wenn der von ihm verlangt, was gegen Gottes Absichten zu sein scheint (Heb 11,19)? Wird er Gott über alles fürchten und lieben (12)? Abrahams Verhalten zeigt, dass alle Antworten „Ja” heißen. Wie Abraham mit der Prüfung Gottes umgeht, ist vorbildlich. Er zögert nicht, als er verstanden hat, was Gott will. Er zieht sofort ohne Verhandlungen los, denn er hat an Sodom (18,25) gelernt, dass Gottes Gericht immer gerecht und barmherzig ist. Diese ungeheure Sache bleibt eine zwischen ihm und Gott. Weder seine Diener noch selbst sein Sohn wissen von Gottes Auftrag. Hätte er es jemandem begreiflich machen können? Aber er weiß, dass Gott selbst alles sieht und auch seine Verheißung mit Isaak nicht aus den Augen verliert (14). Und so kommt es auch.
Das Neue Testament wirft noch ein neues Licht auf Gottes Plan. Abraham gibt mit seiner Bereitschaft zum Gehorsam eine Vorschau auf Gott selbst. Er hat seinen einzigen Sohn nicht verschont und schenkt uns damit seine ganze Liebe (Joh 3,16). Gott hat in Israel nach dem Gesetz Anspruch auf jeden erstgeborenen Sohn erhoben (2Mo 13,2), der durch ein Tieropfer ausgelöst werden musste. Aber das größte Opfer wird nie von uns verlangt. Das gab Gott selber.
Alle Opfer, die Gott von seinen Kindern erwartet, sind klein im Vergleich zu dem Opfer, das er selbst mit seinem Sohn gab. Wer begreift, wie überreich er von Gott beschenkt ist, der wird sich nicht gegen Gottes Ansprüche empören, auch wenn sie ihn schmerzen. Dabei ist alles, was wir Gott opfern könnten, doch nur, was wir vorher von ihm erhalten haben. Gottes erwartet allerdings, dass wir uns selbst ihm ganz hingeben (Röm 12,1+2). Wir können nicht Besitz oder Zeit, nicht Kraft oder Dasein für uns beanspruchen. Wir gehören ihm mit unserem ganzen Sein. Wir sollten von Zeit zu Zeit in einer stillen Stunde Gott vertrauensvoll erlauben, uns alles zu nehmen, was uns lieb und teuer ist.