Nach wiederholter öffentlicher Kritik an der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel (CE) innerhalb der letzten Monate sollen an dieser Stelle in knapper Form die wesentlichen Stärken dieses Bekenntnisses zur absoluten Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift genannt werden. Um ein umfassendes Bild der hermeneutischen Überlegungen der Verfasser zu bekommen, sollten selbstverständlich auch die beiden nachfolgenden Verlautbarungen des „International Council on Biblical Inerrancy“ (ICBI) zur Kenntnis genommen werden: „Chicago- Erklärung zur biblischen Hermeneutik“ (1982) und „Chicago- Erklärung zur biblischen Anwendung“ (1986).
Differenzierte Stellungnahme
Bei der CE handelt es sich um eine verhältnismäßig kurze und doch theologisch differenzierte Stellungnahme zu Grundfragen biblischer Hermeneutik. 19 knappe Thesen, die nochmals in fünf Leitsätzen zusammengefasst werden, verweisen auf grundsätzliche Gefahren, denen der moderne Mensch auszuweichen hat, wenn er der Bibel gegenübertritt. Darüber hinaus werden wichtige Aspekte genannt, in denen sich die Heilige Schrift von jeder anderen Literatur unterscheidet. Dabei vermeidet die Erklärung vergröbernde Vereinfachungen indem sie beispielsweise auf den Unterschied zwischen Fehler und Stilmittel (Rundung, Ironie …) hinweist.
Seit Jahrzehnten bewährt
Die CE ist seit mehreren Jahrzehnten in der internationalen evangelikalen Welt eine bewährte und weit verbreitete Grundlage biblischer Hermeneutik. Dabei ist sie weitgehend ohne tragfähige Alternative geblieben. Heute erleichtert sie das weltweite theologische Gespräch, da sie evangelikalen Bibelauslegern ermöglicht, sich verhältnismäßig schnell über ihre hermeneutische Position zu verständigen ohne in jedem Fall neu um Formulierungen ringen und theologische Begriffe neu definieren zu müssen. Der theologische Austausch untereinander und die Abgrenzung gegenüber zeitgeistlich beeinflusster Bibelkritik wird durch die CE auch für die Laien eindeutiger.
Verliert sich nicht in endlose Diskussionen
Bei ihrer Beschreibung der Irrtumslosigkeit der Bibel verliert sich die CE nicht in endlosen Diskussionen einzelner exegetischer Probleme und Streitfragen oder unterschiedlicher Auffassungen über verschiedene einleitungswissenschaftliche Details, sondern konzentriert sich auf wenige allgemein anwendbare Prinzipien. Dabei achtet sie darauf, Bibeltreue nicht an den zu erwartenden Ergebnissen exegetischer Arbeit festzumachen, sondern an einer dem Selbstverständnis der Heiligen Schrift entsprechenden Herangehensweise.
Theologisches Lob Gottes
In besonderer Weise kann die CE als theologisches Lob Gottes und seiner Offenbarung der Bibel verstanden werden. Damit ist sie ein vorbildliches Beispiel für die eigentliche Aufgabe der Theologie: Verherrlichung Gottes. In verständlichen Worten beschreibt die CE das Wunder der Inspiration und der vollkommenen Offenbarung Gottes ohne in Spekulationen abzugleiten oder die Bibel den Gesetzen menschlicher Plausibilität zu unterwerfen. Ferner beinhaltet die CE das Bekenntnis zur Unveränderlichkeit und Treue Gottes, der die Menschen an seinem Plan und Wissen über die Welt zuverlässig teilhaben lässt. Diese Erkenntnis bietet die Grundlage dafür, sowohl die Bibel als auch die Wirklichkeit der Welt als unhinterfragbare Realität anzunehmen.
Gott und sein Wort
Die CE zeigt auf eindrückliche Weise die Bedeutung Gottes für das richtige Verständnis der Bibel. Demnach gründen die Aussagen der Heiligen Schrift im souveränen Willen Gottes, können nur durch die Führung des Heiligen Geistes zuverlässig ausgelegt werden. Sie bewirken eine übernatürliche Veränderung im Leben des Menschen. Nur weil Gott es wollte, kann der Mensch Gottes Offenbarung und die ihn umgebende Wirklichkeit zutreffend erkennen. Im Charakter des irrtumslosen und unfehlbaren Gottes liegt die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit seines Produktes, der Bibel, begründet. Der vollkommene Vater von Jesus Christus kann nichts Fehlerhaftes oder Unvollkommenes schaffen auch nicht in logischer oder naturwissenschaftlicher Hinsicht.
Selbstanspruch der Bibel
Die CE entspricht dem biblischen Selbstanspruch auf Inspiration, Unfehlbarkeit und Dauerhaftigkeit. Die Aussagen der Bibel über die ewig gültige, alles menschliche Denken und Forschen übersteigende und alle Bereiche der Wirklichkeit zutreffend beschreibende Offenbarung Gottes decken sich weitgehend mit den Formulierungen der CE.
Wesen der Inspiration
In der CE wird das eigentliche Wesen der Inspiration greifbar und nachvollziehbar beschrieben ohne lediglich in wolkigen Formulierungen und theologischen Schlagworten zu verharren. Inhalt und Form der Offenbarung Gottes werden ebenso besprochen wie das Ineinander von Gott und Mensch im konkreten Vorgang der Entstehung der Bibel. Dabei wird zutreffend von Extrempositionen Abstand genommen, die den Menschen entweder nur als willenloses Schreibrohr in der Hand Gottes verstehen oder in der Bibel lediglich meditative Einsichten der Schreiber in göttliche Prinzipien sehen wollen.
Bibel und geistliches Leben
In vorbildlicher Weise wird in der CE das Verhältnis zwischen der Stellung des Christen zur Bibel und dem Zustand seines geistlichen Lebens aufgezeigt. Wer zu sehr auf seine rein verstandesgemäße Auslegung vertraut, geht an manchen, menschlicher Weisheit unvernünftig erscheinenden Aussagen, vorüber. Wer an Zusagen der Heiligen Schrift zweifelt und sie uminterpretiert, schafft eine Distanz zwischen seinem Denken und dem Denken Gottes. Wer aufgrund wissenschaftlicher oder subjektiver Motive die Bibel entgegen ihrem Selbstverständnis interpretiert und andere so lehrt, wird einmal von Gott zur Rechenschaft gezogen werden. Das Verstehen der biblischen Forderung sollte immer auch die Bereitschaft zum Tun nach sich ziehen, sonst mündet sie in Gesetzlichkeit oder Unfruchtbarkeit.
Gefahr philosophischer Vereinnahmung
Wie in kaum einem anderen zeitgenössischen Programm der Hermeneutik wird den Gefahren der philosophischen Vereinnahmung der Theologie verständlich und deutlich gewehrt. Angesichts einer nach wie vor rationalistisch geprägten Zeit wird besonders auf die Selbstanmaßung des menschlichen Denkens hingewiesen, welches meint, die Bibel den Ergebnissen gegenwärtig diskutierter Theologie und eigenen Zweifeln unterwerfen zu müssen.
Gefahr naturwissenschaftlicher Bevormundung
In der CE wird darüber hinaus deutlich und verständlich auf die Gefahren der naturwissenschaftlichen Bevormundung der Bibel hingewiesen. Auch zahlreiche Theologen sind der Faszination naturwissenschaftlicher Welterkenntnis erlegen und stehen so in der Gefahr, die Bibel durch die Brille naturwissenschaftlicher Weltbilder und Einzelergebnisse zu interpretieren. Die CE warnt zurecht vor einem solchen Vorgehen, werden auf diese Weise doch bibelfremde Interpretationsmuster an die Offenbarung Gottes herangetragen, die selbst jedoch nur menschlich und vorläufig sind.
Praktikable Maßstäbe für Exegese
Die CE bietet greifbare und praktikable Maßstäbe für die Exegese. Der Ausleger muss nicht lange rätseln, ob eine naturwissenschaftliche oder historische Aspekte berührende Aussage der Bibel in jeder Hinsicht wahr und zuverlässig ist oder durch die Erkenntnisse gegenwärtiger Wissenschaft korrigiert werden sollte. Wenn es zu einem scheinbaren Konflikt zwischen biblischen Angaben und gegenwärtigen wissenschaftlichen Ergebnissen kommt, sollte der Christen der Aussage Gottes mehr Glaubwürdigkeit beimessen. Andererseits hilft die CE dem Bibelleser manche schwer einzuordnende Stellen als sprachliches Stilelement, literarische Gattung oder persönlichen Akzent des jeweiligen menschlichen Verfassers zu identifizieren. So können Missverständnisse und menschliche Zweifel am Wort Gottes weitgehend vermieden werden.
Gegen Selbstanmaßung des Menschen
Durch das Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel wird die Selbstanmaßung des modernen Menschen, die Welt allein mit eigenen Mitteln zuverlässig verstehen und interpretieren zu können, in ihre Schranken verwiesen. Die CE verweist den Ausleger auf die ihm angemessene demütige Stellung gegenüber dem Reden Gottes. Auch der denkende Theologe wird dazu angehalten, die Ergebnisse seiner eigenen Forschungen den unhinterfragbaren Aussagen der Heiligen Schrift unterzuordnen. In einem Konflikt zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und biblischer Offenbarung muss der Christ seinen Intellekt unter die Wahrheit Gottes demütigen, auch wenn er diese momentan noch nicht hinreichend begründen kann. So mahnt die CE den Menschen deutlich dazu, seine Stellung Gott gegenüber anzuerkennen und sich in jedem Lebensbereich, auch dem des Verstandes, Gott unterzuordnen.
Wehrt Infragestellung biblischer Aussagen
Dem modernen Menschen scheint jede Aussage der Bibel verdächtig, die seinem Selbstverständnis, seiner wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis oder dem Erleben seiner Alltagswelt widerspricht. Wer die entsprechenden Angaben der Heiligen Schrift dann nicht als Aberglauben oder freie Erfindung abtut steht in der Gefahr, sie als Symbol oder Bild umzuinterpretieren. Die CE wehrt einer solchen zeitgenössischen Infragestellung einzelner biblischer Aussagen.
Grundlage ideologie-kritischer Theologie
Durch ihre Betonung der unhinterfragbaren Souveränität der Offenbarung Gottes und ihres Bekenntnisses zu der alles menschliche Wissen übersteigenden Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, bietet die CE die Grundlage einer ideologiekritischen Theologie. Einer auf den Aussagen der CE aufbauenden Theologie fällt es leichter ideologische Paradigmen wissenschaftlichen Arbeitens zu erkennen und scheinbar eindeutige „Fakten“ menschlicher Wissenschaft in Frage zu stellen, da sie von der Überlegenheit göttlicher Offenbarung weiß. So lässt sie sich weniger schnell von allzu selbstverständlichen politischen oder wissenschaftlichen Modeüberzeugungen beeinflussen.
Gegen wissenschaftliche Vereinnahmung
In der CE werden eindrücklich die theologischen und geistlichen Gefahren der wissenschaftlichen Vereinnahmung der Bibel durch moderne Formen der Bibelkritik aufgezeigt. Die Stellung des Christen zu Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift beeinflusst unweigerlich dessen ethische Entscheidungen, seinen Umgang mit scheinbar sicheren Erkenntnissen der Wissenschaft, wie auch seine Stellung zu Gott, die durch subjektivistische Interpretationen der Bibel oder Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit in Mitleidenschaft gezogen werden. Symbolisch ausgelegte Wunder oder Verheißungen Gottes verlieren ihre unmittelbare Relevanz und hindern den Christen, das reale Eingreifen Gottes zu erwarten.
Gegen subjektivistische Exegese
Das eindeutige Bekenntnis der CE zur buchstäblichen Zuverlässigkeit und Abgeschlossenheit der biblischen Offenbarung mindert erheblich die Gefahren individualistischer und subjektivistischer Exegese. Nicht persönliche Eindrücke, verborgene Quellen oder vermeintliche Offenbarungen des Geistes, sondern die möglichst intensive Orientierung an dem wörtlichen Sinn des aus der Vielzahl von Handschriften rekonstruierten Grundtextes soll demnach Fundament richtiger Exegese sein. Spekulationen und unzulässige Allegorien werden von der CE hinter die wörtliche Auslegung eines Textes zurückgestellt. Dabei werden in der geforderten buchstäblichen Deutung der Bibel natürlich sprachliche Stilelemente berücksichtigt.
Im Einklang mit Kirchengeschichte
Die CE steht im Einklang mit der wesentlichen Strömung rechtgläubiger Theologie in der Kirchengeschichte. Wie selbstverständlich wurde von gläubigen Theologen der frühen Kirche, der mittelalterlichen Scholastik, der Reformation, des Pietismus als auch der Erweckungszeit die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel gelehrt, auch wenn nicht immer dieselbe Begrifflichkeit gewählt wurde. Bis in die Neuzeit hinein bildeten Aussagen der Bibel die Grundlagen jedes wissenschaftlichen Arbeitens, sei es bei der Erforschung der Natur, der Beschäftigung mit juristischen Problemen, der Astronomie oder der Philosophie. Wenn auch im Ergebnis nicht immer gelungen, bemühte man sich zurecht, die eigene Forschung an biblischen Aussagen zu überprüfen.
Keine menschliche Legitimation
Die CE versucht nicht durch menschliche Legitimation irgendeiner Art (Konsens, Wissenschaft …) die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel zu belegen, sondern ist sich der Unzulänglichkeit menschlicher Bemühungen voll bewusst und spricht bescheiden die Aussagen der Bibel über sich selbst nach. Sie bekennt sich ohne Suche nach Konfrontation zu deren Wahrheit.
Unzureichende Alternativen
Die in den vergangenen Jahren in Deutschland ins Gespräch gebrachten Alternativen einer evangelikalen Stellungnahme zur CE müssen weitgehend als unzureichend angesehen werden. Manche der heutigen hermeneutischen Konzepte sind bewusst so weit gefasst, dass sie niemanden mehr ausschließen. So kann kaum noch zwischen bibeltreuer und bibelkritischer Exegese unterschieden werden. Andere Entwürfe sind dermaßen unkonkret, dass sie weder in kontroversen Gesprächen noch für die einzelne Exegese praktikabel sind. Wieder andere hermeneutische Überlegungen gehen so viele Kompromisse mit zeitgeistlichen Ergebnissen universitärer Theologie ein, dass sie die Bibel schließlich nur noch durch die Brille jener „wissenschaftlichen“ Ergebnisse betrachten. Schließlich werden auch hermeneutische Überlegungen diskutiert, die der Konfrontation mit dem Zeitgeist ausweichen, indem sie die Autorität der Bibel nur noch auf Fragen der Frömmigkeit und Ethik beziehen. All das kann nicht Grundlage verantwortlicher, bibeltreuer Theologie sein.
Hoffentlich können die hier angestellten Überlegungen sowohl Kritiker als auch Befürworter der CE dazu bewegen, sich mit vorschnellen Urteilen zurückzuhalten, aufmerksamer in der Bibel selbst nach Aussagen darüber zu suchen, wie sie verstanden werden will und Widerstand zu üben gegen eine Bevormundung der Heiligen Schrift durch menschliche Autoritäten – seien das altehrwürdige Kirchentraditionen, Ergebnisse vorläufiger wissenschaftlicher Forschungsarbeit oder persönliche Vorlieben des Exegeten.