ThemenGeschichte der Christen

Der Anfang der Reformation in Hessen: Die Homberger Synode von 1526

Die durch die Reformation ausgelöste Erweckung als Hinwendung zum Wort Gottes, erfordert auch eine Erneuerung in der Organisation der Gemeinden. In der hessischen Reformation wird das ein besonderer Diskussion auch zwischen Luther und dem hessischen Landgrafen

Das 2017 be­vor­stehende 500jährige Reforma­tions­jubiläum wirft seine Schatten voraus. Leider wird das Eigentliche der Reformation bei all den Aktivitäten auffällig an den Rand gedrängt. Was zum Beispiel die Wiederentdeckung des Evangeliums angeht und der besondere Rang, der dabei der Bibel zukam, erscheint dies in den Verlautbarungen meist nebensächlich. Das Wunder der Reformationszeit war im Kern eine Erweckung, ausgelöst durch die einfache Verkündigung des biblischen Evangeliums.

Es lohnt sich darum, einen Blick darauf zu werfen, wie in einzelnen Regionen, Städten und Dörfern die Reformation angekommen ist. Das geschah fast immer dadurch, dass einzelne Menschen zum Glauben an das Evangelium fanden und dann selber Verkündiger der Botschaft wurden. Sie setzten sich für die Verbreitung der biblischen Botschaft ein und nahmen dafür Anfeindungen und Nöte in Kauf.


Man kann sich heute kaum vorstellen, wie schnell und durchgreifend die Reformation ganz Deutschland veränderte. Die Homberger Synode von 1526, mit der Philipp von Hessen die Reformation in seinem Herrschaftsgebiet einführte, war dabei eine Station, vielleicht keine sehr wichtige1, aber doch eine interessante, weil an ihr deutlich wird, welches Element der Reformation in der evangelischen Volkskirche nicht verwirklicht wurde.

Keine 10 Jahre waren es seit dem Thesenanschlag Martin Luthers am 31. Oktober 1517, der die Gemüter so sehr erregt hatte. Und obwohl Luther selbst erst um 1519 zu seiner reformatorischen Erkenntnis gekommen war, hatte sich von da an der „neue Glaube“ in Windeseile über das ganze Land verbreitet. Das war keine Reform von oben, von klugen Politikern oder Priestern organisiert. Nein, die Predigt des Wortes Gottes mit dem befreienden Evangelium von Jesu Tod für uns und der Annahme bei Gott aufgrund des Glaubens führte zur Reformation. Getragen wurde die Reformation damit von den Menschen, die zum Glauben an Jesus fanden und erkannten, dass der bisherige religiöse Betrieb dem Glauben nicht nur im Wege stand, sondern in weiten Teilen gegen Gottes Willen und das Wort der Heiligen Schrift stand.

Der neue Glaube braucht neue Gemeinden

Überall traten Pre­diger auf, die Luthers Einsichten verbreiteten und von vielen freudig aufgenommen wurden. Im dünn besiedelten Nordhessen waren das zum Beispiel in Treysa Nikolaus Ulifex, in Fritzlar Johann Baune und Johann Huhn und in Homberg der Magister Gerhard Ungefug (1490-1543), der später Pfarrer in St. Goar wurde. Aus allen Bevölkerungs­schich­ten, vom Bauern über den Handwerker und den Stadtrat bis zum Fürsten, fanden Menschen zum evangelischen Glauben.

Da wurde nach und nach – und für viele schmerzhaft – klar, dass sich die vorhandene Kirche nicht mit ein paar Veränderungen wieder auf den Weg Gottes lenken ließ. In fast jeder Zelle des Körpers hatten sich falsche Lehren und Haltungen ausgebreitet. Schon als ihm 1520 der Bann der Kirche angedroht wurde, hatte sich Martin Luther – nach anfänglich versöhnlichen Tönen – sehr deutlich geäußert:

„Ich fordere Dich, Leo X., auch Euch, Ihr Kardinäle und alle anderen Leute, die Ihr an der Kurie etwas bedeutet, in die Schranken und sage Euch ins Angesicht: ist diese Bulle [Androhung des Bannes] wirklich unter eurem Namen mit Euren Wissen ausgegangen, so ermahne ich Euch kraft der Gewalt, die ich wie alle Christen durch die Taufe erhalten habe: tut Buße und lasst ab von solchen satanischen Lästerungen Gottes, und zwar schnell. Andernfalls sollt Ihr wissen, dass ich mit allen Verehrern Christi den Stuhl von Rom für vom Satan besessen und für den Thron des Antichristen halte und ihm als Haupt- und Todfeind Christi nicht mehr gehorchen und verbunden sein will.“

Luther wurde 1521 gebannt und damit aus der Kirche ausgeschlossen. In Worms wurde er mit der Reichsacht belegt und war „vogelfrei“. Mit ihm wussten sich von da an viele um des Evangeliums willen von der römischen Kirche getrennt, auch wenn das Wormser Edikt aus politischen Gründen nicht durchgeführt wurde.

Schon bald wurde es nötig, die entstehenden Gemeinden des „neuen“ Glaubens zu ordnen und Martin Luther wurde mit vielen Fragen bedrängt, wie das geschehen könnte. So war er am 25. September 1522 nach Leisnig, einem kleinen Ort bei Freiberg in Sachsen, gereist und hatte die Aufstellung der „Leisniger Kastenordnung“ unterstützt, die unter anderem einen Passus zur freien Wahl der Prediger durch die Gemeinde enthielt. 1523 begründete Luther dann dieses Recht der Gemeinde in der kurzen Schrift „Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe / alle lere tzu urteylen / und lerer tzu beruffen eyn und abtzusetze / Grund und Ursach aus der schrifft.“ 1525 war er mit der Erarbeitung und Einführung einer evangelischen Gottesdienstordnung beschäftigt. Als die „Deutsche Messe“ Anfang 1526 gedruckt wurde, zeigte Luther in seiner Vorrede, dass es ihm dabei um mehr ging als einen erneuerten Ablauf des Got­tes­dienstes: mit dem Hören des Wortes Gottes im Gottesdienst werden die Glaubenden gesammelt und von dort aus soll, wird und muss die ganze Kirche eine neue Ordnung finden.

Ein junger Landesfürst wird zum Motor

PhilippvonHessenEine Anfrage zur Ordnung der Kirche kam – wenn auch indirekt – aus Homberg an der Efze an Martin Luther. Dort war vom 21. – 23. Oktober 1526 auf Veranlassung des Land­grafen Philipp des Großmütigen von Hessen eine Synode der weltlichen und geistlichen Stände in der Marienkirche zusammengekommen. Philipp sah sich durch den Ausgang des Reichstags in Speyer im August des Jahres ermutigt, die Reformation in Hessen allgemein einzuführen. Er war zuerst Kritiker der Reformatoren gewesen und 1524, gerade 20 Jahre alt, nach einem Gespräch mit Philipp Melanchton, Anhänger Luthers geworden. Das aber so tiefgreifend, dass er jetzt nicht aus Machtinteresse, sondern aus Glauben handelte. Das zeigte sich auch daran, dass er bereits im Februar mit dem Kurfürsten Johann von Sachsen ein „Bündnis zur Erhaltung des Wortes Gottes“ geschlossen hatte. Lieber wolle er auf Macht, Geld und Ehre verzichten, als dem Wort Gottes untreu zu werden. Dann trat er in Speyer mit seiner ganzen Begleitung in auffällig bestickter Bekleidung auf: VDMIE stand da zu lesen, als lateinische Abkürzung für „Gottes Wort bleibt in Ewigkeit“.

Als Ergebnis des Reichstages verschiebt Kaiser Karl V., der auf die Unterstützung der deutschen Fürsten im Krieg gegen Frankreich und die Türken angewiesen war, eine Entscheidung in der Religionsfrage bis zu einem großen Konzil unter Leitung des Papstes und überlässt es jedem Landesfürsten bis dahin, „für sich so zu leben, zu regieren und zu halten, wie ein jeder solches gegen Gott und die kaiserliche Majestät hoffet und vertrauet zu verantworten“.

Philipp beauftragt umgehend Franz Lambert von Avignon, den er wahrscheinlich erst in Speyer kennengelernt hatte, mit der Vorbereitung einer Ordnung für eine evangelische Kirche in Hessen.

Lambert war ehemaliger Franzis­ka­nermönch, der um 1521 unter Einfluss von Luthers Schriften zum evangelischen Glauben gefunden hatte. Er war durch Deutschland gereist und hielt 1523/24 auch in Wittenberg Vorlesungen. Nach­dem Luther anfänglich skeptisch war, vertraute er ihm. Lambert war in Wittenberg gleich so als Lehrer aufgetreten, dass Luther verärgert war über diesen Hochmut, „der die eigene Weisheit immer über die der anderen setze“. Bis er Wittenberg verließ, sei er aber „sehr gewachsen“.

Wahrscheinlich wegen seiner mangelhaften Deutsch­kennt­­nisse war er in Wittenberg nie zu Hause, auch nicht nachdem Luther ihm zu einer Ehe mit Christine, einer Bäckerstochter aus Herzberg, verhalf, mit der er zeitlebens glücklich war. Er ging nach Metz und dann nach Straßburg, um die dortige Reformation zu unterstützen, bis ihn Philipp Ende September 1526 nach Kassel rief. Zur Vorbereitung der Synode in Homberg verfasste er 158 Thesen, die die Grundlage für eine neue Ordnung der Kirche in Hessen bilden sollten.

Der Verlauf der Synode in Homberg

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Homberg in Mitte des 16. Jhds

Zugleich lud Landgraf Philipp die geistliche Leitung der Kirche und der Klöster auf ein „freundlich und christlich Gespräch“ nach Homberg ein. Auch die Stände und Stadträte erhielten eine Einladung, dachten aber, es handele sich dabei um einen Landtag. Der Landgraf nennt sie in seiner nachträglichen Mitteilung an den Kaiser eine „Provinzialsynode“. Wenn der „Homberger Tag“ auch nicht alle Züge einer ordentlichen Synode trug und deswegen seine Rechtmäßigkeit bestritten wurde, darf er im Geist der neuen Kirchenordnung, die Philipp und anderen vorschwebte, doch als solche bezeichnet werden.

Der Tag vor dem Beginn der Synode, Sonntag, der 21. Oktober, war von Vorbereitungen geprägt, zu denen auch gehörte, die 158 Thesen, die Franz Lambert in lateinischer Sprache verfasst hatte, an die Kirchentür zu heften. In der Versammlung selbst hielt sich Landgraf Philipp offenbar im Hintergrund und beteiligte sich erst später an der Diskussion. Sein Kanzler Johannes Feige eröffnete die Synode mit einer Rede: Der Landgraf wolle der Verunsicherung der Menschen in der Religionsfrage abhelfen und darum nach dieser Beratung weitere Schritte unternehmen.

Danach trug Lambert seine Thesen vor, belegte alles gründlich aus der Heiligen Schrift und zählte in einer langen Rede noch einmal die zahlreichen Irrtümer der Kirche auf. Weil Lambert nur Latein gesprochen hatte, wurden seine Thesen am Nachmittag von Adam Krafft, aus Fulda gebürtig und seit 1525 Hofprediger Philipps, erneut auf Deutsch vorgetragen. Er eröffnete auch die Diskussion, indem er jeden, der in den Thesen eine Abweichung von Gottes Wort und Willen erkenne, aufforderte, das zu erklären.

Es erhob sich allein Nikolas Ferber, Franziskanerprior aus Marburg. Das zeigt, wie weit die Gedanken der Reformation zu dieser Zeit schon unter den Grafen, Räten und Priestern verbreitet waren. Er wollte allerdings kaum über die Inhalte von Lamberts Thesen sprechen, sondern griff den Landgrafen Philipp direkt an und sprach ihm das Recht ab, eine Synode einzuberufen. Er dürfe keine Veränderungen in der Kirche veranlassen, das stehe allein dem Papst und den von ihm einberufenen Konzilien zu. Fast der ganze folgende Tag war angefüllt mit Ferbers Kritikpunkten. Er prangerte den Charakter des Landgrafen an, weil der sich an den Gütern der Kirche vergreife. Philipp ließ seinen Kanzler antworten, der deutlich machte, dass der Landesfürst bei offensichtlichen Missständen, die dem Land schadeten, und bei um sich greifendem Götzen­dienst auch in kirchliche Angelegenheiten eingreifen müsse.

Nikolas Ferber ließ sich nicht belehren und sprach der ganzen Versammlung jegliche Kompetenz ab, Fragen, die die Kirche betreffen, zu entscheiden. Er bekam aber von niemandem Zustimmung und so gelang es ihm nur, eine ausführlichere Diskussion der Thesen Lamberts zu verhindern, gegen die er nichts vorbringen konnte. Er reiste noch am gleichen Tag aus Hessen ab und verfasste von Köln aus eine Gegenschrift zu Lamberts Thesen.

Als am Dienstag die Synode mit dem Auftrag zu Ende gehen sollte, dass eine Gruppe unter der Führung von Lambert eine neue Ordnung für eine evangelische Kirche erarbeitet, da tauchte aus Waldau unerwartet noch Johann Sperber auf, der anhand von Lukas 1 die Anrufung Marias als Heiliger und Nothelferin verteidigen wollte. Lambert fertigte ihn mit scharfen Worten ab. Es wurde wahrscheinlich über keine Beschlüsse abgestimmt. Da es aber keinen Widerspruch gab, war das Ziel klar: Die Reformation hatte Hessen längst erfasst, nun sollte das auch in einer neuen Kirchenordnung Ausdruck finden.

Die neue Ordnung für die hessischen Kirchen

Die in den kommenden Wochen auf der Grundlage von Lamberts Thesen entstandene Kirchenordnung mit dem Titel Reformatio ecclesiarum Hassiae (Reformation der Kirchen Hessens) zeigt in 34 Kapitel auf, wie kirchliches Leben geregelt werden kann. Das erste Kapitel legt fest, dass allein Gottes Wort der Heiligen Schrift als Norm für die Kirche gelten kann, weil es „aller Gläubigen einzige und dabei sichere Richtschnur zum Heile ist“. Alle menschlichen Meinungen und Traditionen müssen dem­gegenüber zurücktreten. Die Ordnung regelt dann die Austeilung von Brot und Wein beim Abendmahl und drängt allen Prunk zurück, z.B. besondere Gewänder und ein Übermaß an Orgelspiel und Geläut, wenn es das Hören auf das Wort Gottes verhindert.

Gottesdienste sollen auf Deutsch gehalten werden, am besten täglich morgens und abends mit einer Lesung aus dem Alten und Neuen Testament. Die Ordnungen der „Deutschen Messe“, die Luther zuerst in Wittenberg eingeführt hatte, sollten beachtet werden. Es folgen Regeln zu Taufe, Krankenbesuchen, Beerdigung und Hochzeit, die jeweils die römischen Missbräuche durch gute Formen ersetzen sollen. Außerdem soll in Marburg eine evangelische Universität entstehen und eine Armenfürsorge eingerichtet werden.

Besonders interessant ist auch, was ab dem 15. Kapitel über die innere Organisation der Kirche gesagt wird. Da es in der bestehenden Kirchenorganisation Glaubende gibt und solche, die nur mit Namen Christen heißen, sollen einen Monat lang alle wesentlichen Glaubensdinge aus dem Wort Gottes gepredigt und die neue Ordnung der Kirche jedem erklärt werden. Dann soll jeder einzeln erklären, ob er mit ganzem Herzen dazu sein „Ja“ geben kann. Nur wer das öffentlich tut, gehört zur Gemeindeversammlung, die über alle weiteren Angelegenheiten der Gemeinde entscheidet. Die Hoffnung bleibt, dass einmal alle Glieder der Ortsgemeinde dem Wort Gottes gehorsam werden, aber die eigentliche Kirche im Sinne der Bibel bilden nur die Gläubigen. Diese Ge­mein­deversammlung kommt wöchentlich zusammen und regelt alles weitere. Sie wählt Älteste, die in Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch Bischöfe heißen, und Prediger und wacht über Lehre, Amtsführung und Lebenswandel. Sie verwaltet das kirchliche Vermögen und regelt die Armenpflege, die zuerst aus dem Besitz der aufgelösten Klöster geleistet werden soll. Die Bibel aber hat immer das entscheidende und letzte Wort in der Gemeindeversammlung. Auf ihrer Grundlage kann die Versammlung auch Einzelne aus ihrer Mitte ausschließen, die nicht mehr nach christlichen Maßstäben leben. Dabei soll sie nach der Regel Jesu aus Matthäus 18 vorgehen.

In diesen Ordnungen kommen viele Überzeugungen zum Ausdruck, die Lambert anhand der Bibel gewonnen hatte und die zu den Grundüberzeugungen aller Reformatoren gehörten. Dazu zählt, dass die Kirche immer nur die Versammlung der an Christus Glaubenden ist und dass die von Gott Erwählten erkennbar werden, wenn sie Gottes Wort hören und Gott so Glauben in ihnen schafft. Luther hat diese Tatsache immer und immer wieder betont. Auch im Augsburger Bekenntnis von 1530 sind Artikel 7 und 8 diesem Thema gewidmet. In den „Schmalkaldischen Artikeln“ von 1537 heißt es:

Denn es weiß, Gott Lob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist: nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.

Und auch 1539, als sich schon so etwas wie eine evangelische Volkskirche ab­zeich­net, steht Luther in „Von den Konzilis und Kirchen“ weiterhin zu dieser Überzeugung:

Nun gibt es in der Welt vielerlei Völker; aber die Christen sind ein besonderes, ein von Gott berufenes Volk. Sie werden deshalb auch nicht bloß „Volk“, sondern heiliges christliches Volk genannt. Weil es an Christus glaubt, heißt es ein „christliches Volk“ und weil es den Heiligen Geist hat, der es täglich heiligt, heißt es ein „heiliges Volk“. Die Kirche ist nichts anderes als die heilige, weltweite Christenheit.

Mit Luther weiß Lambert sehr wohl, dass es auch immer Heuchler in der Kirche geben wird und er will gar keine abgeschlossene Gemeinde ohne Sünder bilden, aber denen, die durch ihr Leben und ihre Überzeugungen eindeutig zeigen, dass sie nicht den wahren Glauben nach Gottes Wort haben, will er nicht die Macht in der Kirche überlassen. Ein Ausschluss aus der Gemeindeversammlung soll dabei ganz im Sinne der Bibel zur Umkehr des Ausgeschlossenen führen.

Was macht die Kirche zur Kirche?

Wollten Franz Lambert oder die Synode mit der Kirchenzucht Gemeinde schaffen? Dieser Vorwurf geht zu weit, auch wenn die Reformierten gegenüber den von Luther geprägten Evangelischen den von der Bibel geprägten Ordnungen ein höhere Bedeutung zumaßen. Lambert weiß genau, dass Gemeinde aus der rechten Verkündigung des Wortes Gottes entsteht. Wo aber Gottes Volk ist, kann es auf Zucht nicht verzichten2 und hat als einzigen Maßstab dafür die Bibel. Auch die Überzeugung, dass die Gemeinde über die rechte Lehre und Predigt des Wortes Gottes wachen soll, sich dazu Bischöfe im Sinne des Neuen Testamentes, Diakone und Pastoren berufen kann und notfalls auch wieder absetzen, teilt Lambert mit den anderen Reformatoren. Wie Luther ist Lambert der Überzeugung, dass alle Christen durch Taufe und Glauben Heilige und Priester sind. Luther:

„Wir werden alle [durch Taufe und Glaube] als Priester und Pfaffen geboren, danach nimmt man aus solchen geborenen Pfaffen und beruft oder erwählt sie dazu, dass sie für uns alle ein Amt ausrichten sollen“ (Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe, WA 38,230-231).

Und selbst wenn es eine überörtliche Kirchen­orga­nisation geben sollte, die dem Evangelium gemäß handelte, sollte nach Überzeugung Luthers das Recht zur Einsetzung von Predigern bei der Gemeinde liegen:

„Wenn keine Not besteht und solche Christen vorhanden sind, die Recht und Macht und Gnade haben zu lehren, soll kein Bischof jemand einsetzen ohne der Gemeinde Wahl, Willen und Berufung“ (Das eine christliche Versammlung … WA 11,414).

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Gedenktafel an der Kirche in Homberg

Die gewählten Bischöfe jeder Gemeinde sollen vor allem Gottes Wort predigen und nur für so viele Glaubende zuständig sein, wie sie selber erreichen können. Lambert hatte dabei offensichtlich nicht zuerst eine kirchliche Dachorganisationen vor Augen, sondern ging davon aus, dass die Versammlung der Gläubigen vor Ort das kirchliche Leben ausmachen. Vertreter der Gemeinden sollen sich dann auch in überörtlichen Synoden beraten. Dort können schwierige Glaubensfragen entschieden und die Visitationen der Ortsgemeinden organisiert werden. Der Landesfürst sollte dabei übrigens Bruder unter Brüdern sein und nur im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Reformationsordnung als Motor für ihre Durchsetzung fungieren.

Martin Luther hatte offenbar eine ähnliche Vorstellung von einer zukünftigen evangelischen Gemeinde, als er in seiner Vorrede zur „Deutschen Messe“ davon sprach, dass es drei „Weisen“ vom Zusammenkommen der Ortsgemeinde geben sollte. Eine Weise sah er in einem Gottesdienst in lateinischer Sprache im Sinne eines christlich geprägten Schulunterrichts für die Jugend. Die zweite auf deutsch sollte eher evangelistische „Reizung zum Glauben“ sein und hatte die Form eines heutigen kirchlichen Sonntagsgottesdienstes.

„Aber die dritte Weise, die eine rechte Evangelische Ordnung sein sollte, muß nicht so öffentlich auf dem Platz geschehen unter allerlei Volk, sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Munde bekennen, müssten sich mit Namen einzeichnen und etwa in einem Haus sich versammeln zum Gebet, zum Lesen, zum Taufen, das Abendmahl zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, die sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi Matth. 18. Hier kann man auch ein allgemeines Almosen einsammeln, das willig gegeben werden soll und unter die Armen ausgeteilt nach dem Beispiel von Paulus 2Kor 9. Hier bräuchte man nicht viele Gesänge. Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und dem Abendmahl halten und alles auf das Wort und Gebet und auf die Liebe richten. Hier bräuchte man einen kurzen Katechismus über den Glauben, die Zehn Gebote und das Vaterunser. Kurz gesagt, wenn man die Leute und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Weisen wären bald gemacht. Aber ich kann und mag noch nicht eine solche Ordnung und Gemeinde oder Versammlung ordnen oder einrichten, denn ich habe noch nicht Leute und Personen dazu. So sehe ich auch nicht viel, die dazu drängen. Kommt es aber, dass ich es tun muss und dazu gedrungen werde, dass ich mit gutem Gewissen nicht lassen kann, so will ich das meine gerne dazu tun und auf das Beste, was ich vermag helfen“ (WA 19,75-76).

In diesem Sinn hat Martin Luther auch geantwortet, als ihm Landgraf Philipp die fertige Kirchenordnung von Homberg zusandte. Am 7. Januar 1527 schrieb er, dass er von Wittenberg aus zwar nichts vorschreiben wolle, es aber, wenn er denn um Rat gefragt werde, für eine so ausgefeilte Ordnung mit so vielen Paragraphen noch zu früh sei.

„Denn ich weiß wohl, hab es auch wohl erfahren, dass wenn Gesetze zu früh für den Gebrauch und Übung aufgestellt werden, selten wohl geraten. Die Leute sind nicht dazu geschickt, wie die meinen, so da sitzen bei sich selbst und malen es mit Worten und Gedanken ab, wie es gehen solle. Vorschreiben und Nachtun ist weit voneinander“ (WA Br. 4,157-158).

Es werde sich zeigen, dass man nicht alle Regelungen verwirklichen kann und die angestrebte Gemeindever­sammlung nur aus wenigen Per­sonen bestehen wer­de. Darum solle man erst versuchen, an etlichen Orten evangelische Pre­diger einzusetzen, die dann nach und nach nur wenige Ordnungen aufstellen, sie unter sich ausprobieren und erst dann aufschreiben und allen aufgeben:

„Kurz und gut, wenig und wohl, sachte und immer an. Danach wenn sie einwurzeln, wird des Dazutuns selbst mehr folgen.“

Luther war von den Visitationen in den Gemeinden in Kursachsen ernüchtert, wo es viele Menschen gab, die nur formal evangelisch waren und das als Deckmantel für ein zügelloses Leben benutzten. Auch fanden sich kaum evangelische Prediger, so dass er nicht glaubte, es könne in Hessen besser sein. Evangelische Gemeinde kann aber nicht mit einer Kirchenordnung gebaut werden, sondern nur durch die Verkündigung von Gottes Wort.

„Denn Gottes Wort ist heilig und heiligt alles, was mit ihm in Berührung kommt. … Wenn du nun hörst oder siehst, dass man das Wort Gottes predigt, glaubt, bekennt und danach tut, da habe keinen Zweifel, dass hier eine rechte „ecclesia sancta catholica“ – ein christliches heiliges Volk – sein muss, auch wenn nur wenige dazu gehören. Denn Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein, und Gottes Volk kann nicht ohne Gottes Wort bestehen. Wer sollte es sonst predigen oder die Predigt hören, wenn es kein Volk Gottes gäbe? Und was könnte oder wollte Gottes Volk glauben, wenn Gottes Wort nicht wäre?“ (Von den Konziliies und Kirchen)

Dann aber – das sah Luther auch so – muss sie auch eine gute Ordnung finden, wozu auch gehörte,

„die öffentlich als falsche und ungläubige Christen bekannt sind, duldet die Kirche oder Gottesvolk nicht in ihrer Mitte, sondern weist sie zurecht oder heiligt sie. Wenn sie aber nicht hören wollen, stößt es sie durch den Bann aus dem Heiligtum und hält sie für Heiden“ (Von den Konziliis und Kirchen).

Man kann an der Homberger Kirchen­ordnung kritisieren, dass sie zu Vieles mit zu vielen Paragraphen regeln will, insbesondere da, wo sie von einem schon geordneten evangelischen Gemeindewesen ausgeht, das es aber noch nicht gab. Auch hat sie zu wenig die ländliche Situation im Blick. Aber in ihrer Zielrichtung zeichnet sie einen biblischen Weg, was Franz Lambert im 20. Jahrhundert den Vorwurf des „Biblizismus“ eintrug3.

Reformation, aber vorerst ohne Kirchenordnung

Die Reformatio ecclesiarum Hassiae verschwand in der Schublade und wurde von dort nicht mehr heraufgeholt. Sie spielte für die Reformation Hessens keine Rolle mehr. Man erinnerte sich auch nicht an sie, als 13 Jahre später in Ziegenhain unter der Leitung von Martin Bucer an einer „Ordnung der christlichen Kirchenzucht“ gearbeitet wurde, die eine Besserung oder Ausschließung von Gemeindegliedern regelte, die anhaltend unchristlich lebten. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts kam sie für kurze Zeit als Vorbild für eine Reform der Kirchenverfassung wieder ins Gespräch, allerdings mit dem Missverständnis, es gehe in ihr vor allem um eine Demokratisierung der Gemeinde. Andere erkannten zwar ein Musterbeispiel für Luthers „3. Weise“, jedoch ohne dass daraus Kon­sequenzen gezogen worden wären.

Landgraf Philipp zog aus Luthers Rat sofort die Konsequenz, nur einzelne Teile der Reformatio zu verwirklichen: er schuf 1527 in Marburg mit der ersten evangelischen Universität eine neue theologische Ausbildungsstätte, damit von dort evangelische Prediger ausgehen, die im Land Gemeinde bauen. Und der erste Professor wurde – neben Adam Krafft, der ab 1530 auch die „oberhirtliche Aufsicht“ über die hessische Reformation hatte – Franz Lambert von Avignon. Er bildete alle hessischen Pastoren aus, bis er 1530 mit seiner ganzen Familie an der Pest starb. Der Landgraf richtete in kurzer Zeit die geplante Armenversorgung ein und machte Klöster zu Krankenhäusern. Und nach Luthers Rat schickte er Visitatoren zu Besuchen in die Gemeinden. Sie sollten durch die Einsetzung von Predigern und deren Überwachung die Reformation befördern. Dass auch viele praktische und rechtliche Fragen zu klären waren, zeigte sich bald. Unter den Visitatoren waren zunehmend Juristen und neben der Einsetzung und Besoldung von Pfarrern besteht die Neuordnung der Gemeinden vielfach in der Klärung juristischer Fragen, die Glaubensfragen zurückdrängen.

Es folgten in den kommenden Jahren noch andere Kirchenordnungen in Hessen (1537 Ordnung der Visitation und der Kirchendiener, 1539 Ordnung der christlichen Kirchenzucht [Ziegenheiner Zucht­ordnung], 1566 Große Kirchenordnung), die viele kirchliche Praktiken regelten, aber keine hat so klar formuliert, wie eine Gemeinde nach der Norm der Heiligen Schrift aussehen könnte wie die Homberger.


  1. Homberg darf sich allerdings seit kurzem offiziell „Reformationsstadt“ nennen. 

  2. „Will die Kirche wirklich Kirche sein und nicht bloß Scheinleib, dann muß sie Zucht üben“ so das Fazit der Studie Das Problem der Kirchenzucht im Neuen Testament von Rudolf Bohren (S. 119). 

  3. Dieser und andere Vorwürfe wurden vor allem von Wilhelm Mauer Anfang des 20. Jhd. formuliert. Der Kirchenhistoriker Kurt Aland meinte dagegen: „Es ist die Frage, ob der hessische [gegenüber dem kursächsischen] Weg nicht der richtigere gewesen wäre. … Hier wird die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen definiert und die Selbstverwaltung durch eine Synode der Gläubigen unter Ausscheidung der Mitläufer auf der Grundlage der Schrift gefordert. … Man hat Luther deswegen befragt, aber Luther hat abgeraten: Diese Maßnahme wäre der zweite Schritt, und man solle den zweiten nicht vor dem ersten tun, sonst würde man Schaden anrichten. Das ist sicher realistisch gesehen. … Er rät also – richtig – zum ersten Schritt. Aber das Resultat ist, dass es zum zweiten, offensichtlich auch von Luther für richtig gehaltenen, Schritt in der evangelischen Kirche nie oder nicht eigentlich gekommen ist.“ Geschichte der Christenheit, II, 113-114