In Konstanz wird gefeiert. Vor 600 Jahren von 1414-1418 fand hier eines der wichtigsten Konzilien der mittelalterlichen Christenheit statt. Schon seit Jahrzehnten zerfielen damals das Ansehen und die Einheit der Kirche. Korruptionsaffären, Verschwendungssucht und Machtkämpfe waren an der Tagesordnung. Das Amt des Papstes wurde weit mehr politisch als geistlich gefüllt.
Die anlässlich des Jubiläums geplanten Veranstaltungen reichen von der touristischen Stadtführung über Konzerte, Theater, Erlebnisangebote für Kinder bis hin zu Konferenzen und Gottesdiensten. Am 27. April 2014 begann im Konzilgebäude eine große Landesausstellung, die vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe ausgerichtet wurde. Eröffnet wurde das Jubiläum mit dem Konzilfest in der Altstadt. Zu einem der Höhepunkte im ersten Jubiläums-Jahr sollte die grenzüberschreitende Sigismundtafel werden. Dabei trafen sich am 24. Mai 2014 eintausend Teilnehmer an einem 275 Meter langen Tisch auf der Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland und verzehrten ihr selbst mitgebrachtes Picknick. Zahlreiche weitere Veranstaltungen sind für die Zeit bis 2018 vorgesehen.
Das Konzil von Konstanz war zweifellos eine der wichtigsten Kirchenversammlungen1 des Mittelalters. Hier wurde um die grundsätzliche Ausrichtung und die Einheit der katholischen Kirche gerungen. Abgesehen von organisatorischen und theologischen Grundsatzdiskussionen blieben den Teilnehmern des Konzils auch einige dramatische Ereignisse nachhaltig in Erinnerung, vor allem die Verbrennung des tschechischen Kirchenreformers Jan Hus:
Der Verurteilte Jan Hus
„sang bald mit lauter Stimme, zuerst: ‚Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich unser!’, dann: ‚Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!’, und zuletzt: ‚Der du aus der Jungfrau Maria geboren’. Und als er zum dritten Mal zu singen begonnen hatte, wehte ihm bald der Wind die Flammen ins Gesicht, und bei sich selbst betend, die Lippen und den Kopf bewegend, endete er im Herren. […] Als jedoch die Holzbündel und das Stroh verbrannt waren, und der Leichnam noch an der Kette stand, die am Halse hing, stießen ihn die Gerichtsdiener bald samt dem Pfahl zu Boden, nährten das Feuer noch mehr durch einen Wagen Holz und verbrannten ihn. Sie gingen ringsum und zerschlugen die Knochen mit Knüppeln, damit sie umso schneller zu Asche würden. Und als sie das Haupt fanden, zerschlugen sie es in Stücke und warfen es wieder ins Feuer. … Schließlich verwandelten sie die ganze Masse zu Asche, … luden alles auf einen Wagen, fuhren zum nahen Rhein und warfen es dort in die Tiefe.”2
So berichtet der Zeitzeuge Petrus de Mladenovicz über die grausame Verbrennung des vermeintlichen Ketzers Jan Hus am 6. Juli 1415.
Das Konzil (1414-1418)
Aufgrund der schlechten Amtsführung Papst Urbans VI. wurde 1378 Robert von Genf als Clemens VII. zum Gegenpapst gewählt. Da Urban aber nicht daran dachte, zurückzutreten, begann eine tragische Spaltung der katholischen Kirche. In verschiedenen Kriegen versuchte jeder der rivalisierenden Päpste und deren Nachfolger, ihre Macht in Europa auszubauen. 1409 setzten Kardinäle, die sich mit keinem der beiden Kandidaten anfreunden konnten, einen dritten Papst ein, der in den folgenden Jahren um Macht und Einfluss konkurrierte.3
Bei Amtsantritt König Sigismunds (1410) amtierten Gregor XII., Benedikt XIII. und Johannes XXIII. als Päpste der katholischen Kirche. Jeder dieser drei wurde in seinem Anspruch von einzelnen europäischen Fürsten unterstützt. In der Bevölkerung bewirkte diese Vielzahl der Kirchenoberhäupter eine ungemeine Verunsicherung. Da sich die Päpste gegenseitig exkommuniziert hatten, waren ihre Amtshandlungen nach katholischer Lehre unwirksam. Theoretisch konnte damit kein Priester rechtsgültige Taufen durchführen, Ehen schließen oder Beerdigungen arrangieren. Auf den Vorschlag Sigismunds wurde ein allgemeines Konzil einberufen, das die schmerzliche Kirchenspaltung überwinden sollte. Als Tagungsort wurde das damals neutrale Konstanz bestimmt.
Während des Konzils stand Konstanz für vier Jahre im Mittelpunkt des kirchenpolitischen Interesses. Kaiser, Papst und Kirchenfürsten bezogen mit ihrem Gefolge in Konstanz und Umgebung Quartier. Man zählte 33 Kardinäle, 346 Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe, 2148 weltliche Doktoren sowie 546 Vorsteher der Mönchsorden, nebst Angestellten, Händlern, Musikern, Prostituierten usw. Die geschätzten 50.000 bis 70.000 Konzilbesucher verschafften der Stadt einen beträchtlichen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung.4
Papst Johannes XXIII. eröffnete das Konzil am 5. November 1414. Zuerst wollte er noch zurücktreten, falls sich auch seine beiden Konkurrenten dazu bereit erklären würden. Nachdem sich die Verhandlungen allerdings ungünstig für ihn entwickelten, floh er verkleidet nach Schaffhausen. Wenig später wurde er auf Befehl Sigismunds in Freiburg festgenommen. Unter der Leitung von Kardinal Guillaume Fillastre verabschiedeten die Theologen ein Dekret (Haec sancta), mit dem Johannes XXIII. abgesetzt und die vorläufige Leitung der Kirche dem Konzil übertragen wurde.
Der in Rom residierende Gregor XII. erklärte sich nach einigen Verhandlungen im Juli 1415 dazu bereit zurückzutreten. Benedikt XIII. allerdings hielt an seinem Anspruch fest und floh unter dem stärker werdenden politischen Druck von Avignon an die spanische Küste (Peñíscola an der Costa del Azahar), wo er sich bis zum Ende seines Lebens aufhielt (1423). Das Konzil setzte kurzerhand auch Benedikt ab (Juli 1417) und wählte Martin V. (Oddo di Colonna) als neues Oberhaupt der katholischen Kirche.5
Insgesamt wurden im Konstanzer Münster und im Kaufhaus am See, das seither den Namen „Konzilgebäude” trägt, 45 Sitzungen abgehalten. Die letzte fand am 22. April 1418 statt, worin der neu gewählte Papst das Konzil für beendet erklärte und die Erlaubnis zur Abreise erteilte.
Nach dem Willen der Kirchenvertreter sollten künftig alle zehn Jahre weitere Konzilien stattfinden, um über wichtige theologische Fragen zu verhandeln (Edikt Frequens). Faktisch aber übernahmen wieder die Päpste ihre Position als höchste Lehrinstanz der Kirche. In den vergangenen 600 Jahren haben deshalb lediglich fünf weitere Konzilien stattgefunden.
Obwohl das Konzil von Konstanz päpstlichen Amtsmissbrauch und die Spaltung der Kirche überwand, versäumte es, eine tiefgreifende Reform katholischer Theologie und Praxis einzuleiten. Auch griffen die kirchlichen Würdenträger bei der Verurteilung und Hinrichtung von Jan Hus und Hieronymus von Prag selbst zu unrechtmäßigen Mitteln, wodurch sie sich das Vertrauen bei weiten Teilen der Bevölkerung verscherzten.
Die Todesurteile über die unangenehmen böhmischen Reformatoren sollten dabei helfen, die Einheit der Kirche wieder herzustellen. In Wirklichkeit aber führten sie zu den langwierigen Hussitenkriegen (1419-1434) und zu einer tiefsitzenden Skepsis vieler Tschechen der katholischen Kirche gegenüber. Diese nicht aufgearbeiteten Missstände mündeten hundert Jahre später in die Reformation, die von Martin Luther initiiert wurde.6
An das Konzil erinnern heute in der Stadt Konstanz ein Hus Museum (Hussenstraße 64), das Konzilgebäude (Hafenstraße 2), eine Gedenkplakette und zwei Erinnerungstafeln in der Fußgängerzone.
Es ging in Konstanz also nicht nur um die Neuordnung der katholischen Hierarchie. Die Kirche ging auch gegen störende Kritiker vor. Und entsprechend den mittelalterlichen Rechtsvorstellungen verfuhr man dabei nicht zimperlich.
Jan Hus’ Lebensweg (1370-1415)
Um das Jahr 1369 wurde Jan Hus in dem kleinen böhmischen Dorf Husinec geboren. Im Alter von 12 Jahren gaben Hus’ Eltern ihn in die Pfarr-Lateinschule im benachbarten Prachatitz. Von 1389 bis 1396 studierte er Theologie und Philosophie an der Prager Universität.
Mit 40 000 Einwohnern war Prag damals die bevölkerungsreichste Stadt nördlich der Alpen und östlich des Rheins. Die Universität gehörte zu den bedeutendsten Europas. Zu Beginn seines Studiums genoss er das vergnügliche Leben. Später begann er sich stärker akademisch und religiös zu engagieren. Im Anschluss an seine Magisterprüfung wurde er zum Priester geweiht (1400) und zum Dekan der philosophischen Fakultät ernannt. Von 1409 bis 1410 war er Rektor der Prager Universität.7
Seit 1402 war Jan Hus Pfarrer der Bethlehemskapelle, einer Kirche in der Prager Altstadt, in der ausschließlich Tschechisch gepredigt wurde. Erst wenige Jahre zuvor war der durch Johann von Mühlheim gestiftete Kirchenbau eingeweiht worden (1394). Den Namen Bethlehem (= Haus des Brotes) hatte man bewusst gewählt. Unter Gottes Brot verstand der Stifter die Bibel. In dieser Kirche sollten Liturgie und Sakramentsfrömmigkeit zugunsten der Predigt zurücktreten.8
Vor bis zu 3000 Zuhörern hielt Hus dort und andernorts 200 Predigten im Jahr. Schon damals war er als geschickter Redner bekannt, der die Verfehlungen der Kirche treffend kritisieren konnte.9 Hus kämpfte für Glaubens- und Gewissensfreiheit, für die Bibel als einzige Autorität in Glaubensfragen und für die Reform des verweltlichten Klerus.
Die Betlehemskapelle verwandelte sich in ein Zentrum der geistlichen Reformbewegung. Viele der tschechischsprachigen Theologen sympathisierten mit den Lehren John Wyclifs (1330-1384), der sich gegen Bilder-, Heiligen-, Reliquienverehrung, den Priesterzölibat, die Ohrenbeichte, die Transsubstantiationslehre, den Reichtum der Kirche und die weltliche Macht der Geistlichen wandte.
Auch forderte der englische Prediger, dass jeder die Möglichkeit haben sollte, die Bibel in seiner eigenen Muttersprache zu lesen. Neben Jan Hus wurden diese Ideen insbesondere von Hieronymus von Prag, Stephan von Paletsch, Stanislaw von Znaim und Nikolaus von Stoitschen aufgegriffen, wobei die letzten drei später zu vehementen Gegnern des tschechischen Reformators werden sollten.10
Konzipiert war die Prager Universität durch ihren Gründer Karl IV. als internationale Reform-Hochschule. Zu Hus’ Zeiten kamen die meisten Dozenten und Studierenden aus Bayern, Sachsen, Polen und Ungarn. In den Auseinandersetzungen um die Lehren Wyclifs schlugen sich die Ausländer überwiegend auf die Seite der katholischen Tradition, wohingegen die meisten Tschechen dem englischen Reformer zuneigten.
Deutsche Theologen warfen den tschechischen Kollegen Irrlehre, Völlerei und einen amoralischen Lebensstil vor. Auch der Prager Erzbischof Zbyněk von Hasenburg, der anfänglich ein Unterstützer von Jan Hus war, wandte sich schließlich gegen die Reformbewegung. König Wenzel IV. von Böhmen hingegen unterstützte Hus und seine Anhänger, weil er sich dadurch Vorteile für seine Wahl zum deutschen Kaiser erhoffte.
1408 wurden die Ideen Wyclifs in Prag offiziell als Irrlehre verurteilt. Stephan von Paletsch und andere widerriefen und schlossen sich der katholischen Sicht an. Andere Geistliche unter der Leitung von Jan Hus radikalisierten ihre Kritik an der Kirche. König Wenzel unterstützte die Reformer mit dem Kuttenberger Dekret. Darin wurde das Stimmenverhältnis an der Prager Universität zugunsten der Tschechen verändert. Hatten bisher die ausländischen Akademiker die Mehrheit, sollten fortan die Tschechen das Übergewicht bekommen.11
Aus Protest gegen dieses Dekret verließen rund 800 deutsche Gelehrte und Studenten Prag. Das waren 80% der Studierenden. Viele von ihnen zogen nach Leipzig und gründeten dort eine eigene, deutsche Universität. Trotz aller Bemühungen der tschechischen Gelehrten um Jan Hus sanken das Niveau und damit die Anziehungskraft der Prager Universität. Zimmer blieben leer, Vermieter, Wirte, Friseure und Wäschereien verloren ihre Kunden. Das Ausbleiben der ausländischen Studenten verstärkte die Kritik an Hus, insbesondere durch alle, die wirtschaftliche Nachteile zu tragen hatten.12
In den folgenden Jahren nahm der Widerstand gegen Jan Hus und seine Reformideen weiter zu. 1410 ließ der Prager Erzbischof Zbyněk Zajíc die Schriften von Wyclif demonstrativ verbrennen. 1411 verlor Hus auch die Unterstützung des Königs. Nach seinen heftigen Angriffen auf den Ablasshandel kam es zu gewalttätigen Aufständen. Tausende radikale Studenten stürmten die Prager Kirchengebäude. Noch im selben Jahr wurde Hus als Rektor suspendiert und wegen Ketzerei angeklagt. Trotz erheblicher Angriffe wollte Hus nicht von der einmal erkannten biblischen Wahrheit abweichen:
„Mit der Hilfe des Herrn Christus werde ich den Beschluss der theologischen Fakultät nicht annehmen, auch wenn ich vor dem für mich bestimmten Scheiterhaufen stehen würde. […] Wenn ich schon nicht der Wahrheit in allen Dingen zum Sieg verhelfen kann, will ich doch wenigstens kein Feind der Freiheit sein […] Besser aber ist es, auf gute Weise zu sterben als schlecht zu leben […].”13
1413 schrieb Hus in De Ecclesia seine Gedanken über die Kirche nieder. Kirche sei eine nicht-hierarchische Gemeinschaft, in der nur Jesus Christus das Oberhaupt sein könne, keine menschlichen Herrscher. Ein Jahr später wurde Jan Hus deshalb gebeten, seine Überzeugungen vor dem Konstanzer Konzil darzulegen (1414). Hus reiste freiwillig dorthin.
Der Prozess
Auf seinem Weg durch Süddeutschland14 ließ Hus an einigen Kirchentüren sein Vermächtnis anschlagen:
„Magister Jan Hus begibt sich soeben nach Konstanz, um den Glauben zu bekennen, den er bislang gehalten hat, jetzt hält, und, wenn es der Herr Jesus Christus gibt, halten wird bis zum Tod … Magister Jan ist bereit, jedem Widersacher auf diesem Konzil Rechenschaft zu geben von seinem Glauben.”
Am 3. November, bevor das Konzil eröffnet wurde, erreichte Hus Konstanz, wo Tausende zusammenkamen, um den bekannten Prediger zu sehen. Drei Wochen lang las Hus unbehelligt in seiner Herberge Messgottesdienste, bevor er am 28. November verhaftet wurde, obwohl König Sigismund ihm freies Geleit garantiert hatte. Kirchenvertreter erklärten die Zusage des Königs für nichtig: Für Hus’ „ketzerische” Ansichten sei nicht die weltliche, sondern die kirchliche Ordnung zuständig.15
Im Konstanzer Dominikanerkloster wurde Hus tagsüber gefesselt und nachts in einen Verschlag gesperrt. Er bekam kaum zu essen und war beständig dem Gestank der nahen Kloake ausgesetzt. Mit dieser Behandlung wollte man ihn für die bevorstehenden Verhandlungen gefügig machen. Doch Hus ließ sich trotz Krankheit und Schmerzen nicht einschüchtern.
In Briefen sprach er von Vergebung für seine böswilligen Feinde, sowie von der Unterordnung unter den guten Willen Gottes. Das heimlich von Freunden gemachte Angebot, ihm zur Flucht zu verhelfen, lehnte er ab, weil er von der Wahrheit des Evangeliums öffentlich Zeugnis ablegen wollte.
In den Verhören des Konzils (ab dem 5. Juni 1415) verlangte man von Hus, seine vorgeblichen Irrlehren zu bereuen und zu widerrufen (Kritik an der Praxis der Eucharistie, an der Reliquienverehrung, an der lateinischen Predigt, am Ämterkauf, an den politischen Ambitionen der Kirche usw.). Hus willigte unter der Voraussetzung ein, dass man ihm seine Irrtümer anhand der Bibel aufzeigen könne. Weil niemand wirklich an einer theologischen Disputation interessiert war, wurde Hus von den ungeduldigen Teilnehmern immer wieder mit den Worten „Verbrennt ihn! Verbrennt ihn!” unterbrochen. Da man in dieser heiklen kirchenpolitischen Situation aber keine weiteren Kontroversen anfachen wollte, zog sich der Prozess tagelang hin, in der Hoffnung auf irgendeinen Kompromiss mit dem tschechischen Prediger.
Nachdem Hus an seiner theologischen Kritik festhielt, zeichnete sich eine Verurteilung immer deutlicher ab. Entsprechend offiziellem Zeremoniell wurde Hus am 6. Juli 1415 in das Konstanzer Münster vor König Sigismund, zahlreiche Adlige, Kardinäle und Bischöfe geführt, um sein Urteil zu empfangen. Nachdem noch einmal alle Anklagepunkte verlesen wurden, verurteilte man ihn als unverbesserlichen Ketzer zum Tod durch Verbrennen.
Als katholischer Geistlicher sollte er zuerst entweiht und dann getötet werden. Dazu zog man ihm sein Priestergewand aus, zerschnitt seine Tonsur, führte ihn aus der Kirche und setzte eine mit Teufeln bemalte Papiermütze auf seinen Kopf, auf der „Erzketzer” geschrieben stand.
2000 Bewaffnete mit Pfalzgraf Ludwig und einer großen Volksmenge begleiteten Hus auf seinem letzten Gang zu einer Wiese in der Nähe des Rheins. Am Weg, vor dem bischöflichen Palast, wurden symbolträchtig Hus’ Bücher verbrannt. Vor seiner Hinrichtung soll Hus gesagt haben:
„Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan entstehen” („Hus“ bedeutet tschechisch „Gans“).16
Den Schwan identifizierte man später mit Martin Luther, der viele der Reformideen von Jan Hus aufgriff und weiterführte.
Vor dem Scheiterhaufen fiel Hus auf die Knie und betete. Dann wurde er mit nassen Stricken und mit einer rostigen Kette um den Hals an einen Pfahl gefesselt. Holz und Stroh wurde um ihn aufgeschichtet und mit Pech übergossen. In letzter Minute wurde Hus noch einmal gefragt, ob er dem Feuertod durch Abschwören entgehen wolle. Nachdem er sich weigerte, wurde der Holzstoß in Brand gesteckt. Die sterblichen Überreste wurden später in den Rhein gestreut um seinen Anhängern keine Möglichkeit zu geben, ein Grab für ihn zu errichten.17
In seinem Abschiedsbrief schrieb Hus an seine Freunde:
„Das aber erfüllt mich mit Freude, dass sie meine Bücher doch haben lesen müssen, worin ihre Bosheit geoffenbart wird. Ich weiß auch, dass sie meine Schriften fleißiger gelesen haben als die Heilige Schrift, weil sie in ihnen Irrlehren zu finden wünschten.”18
Zwei Wochen nach Hus’ Hinrichtung erklärten 452 böhmische und mährische Adlige dem Konstanzer Konzil die Fehde. Obwohl faktisch nie ein Kampf geführt wurde, wollte man auf diese Weise seinen Protest gegen den offensichtlichen Wortbruch des deutschen Königs und gegen die unrechtmäßige Hinrichtung des Reformators und Nationalhelden zum Ausdruck bringen.19
Das Konzil verurteilte auch die Lehren von John Wyclif und Hieronymus von Prag, der 1416 verbrannt wurde:
„Er lebte in dem Feuer fast länger als der Hus und schrie gräulich, denn er war ein fester, starker Mann mit einem schwarzen, großen Bart. Und nachdem er verbrannt war, wurde die Asche und alles, was von ihm übrig war, in den Rhein gestreut. Viele Leute weinten über seinen Tod, weil er noch fast gelehrter war als der Hus”, berichtet Ulrich Richental.20
John Wyclif war zur Zeit des Konzils bereits seit drei Jahrzehnten tot. So wurden lediglich seine Gebeine ausgegraben und verbrannt.
Vier Jahre nach Hus’ Tod erhoben sich seine Anhänger in Böhmen gegen die katholische Bevormundung. Daraufhin organisierte der Papst vier erfolglose Kreuzzüge gegen die als irrgläubig angesehenen Hussiten. Erst ein Kompromiss auf dem Konzil von Basel (1431-1449) beruhigte die Christenheit in Mitteleuropa. Seit 1436 lebten in Böhmen die Anhänger der alten Kirche und die Anhänger Hus’ relativ friedlich nebeneinander.
Hus und die Tschechen
Am 30. Juli 1419 stürmten Hus’ Anhänger das Prager Rathaus. Anlaß war die Verspottung einer Prozession für den Laienkelch durch die katholischen Ratsherren aus den Fenstern des Rathauses. In einem Handgemenge warfen sie einige der Ratsherren aus dem Fenster (Erster Prager Fenstersturz). Die sich anschließenden Hussitenkriege (1419-1434) verwüsteten nicht nur Böhmen und Mähren (auf dem Gebiet des heutigen Tschechien und der Slowakei), sie griffen auch auf die Nachbarländer über. Am Ende siegten die Habsburger Katholiken und versuchten alle Erinnerungen an die hussitische Reformation zu verdrängen.
Obwohl er sich auch für die tschechische Nation einsetzte, wurden Hus’ theologische Reformideen von vielen Deutschen geteilt, insbesondere in Franken und Schwaben. Angesehene Gelehrte wie Wessel Gansfoort (1419-1489) oder Jakob Vener sprachen sich offen für Hus aus. Hundert Jahre später berief sich Martin Luther in seinen Diskussionen auf Jan Hus, den er als seinen Vorläufer betrachtete.21
Man kann die Hussiten nicht nur als tschechische Nationalbewegung verstehen. So unterhielt der linke Flügel der Bewegung gute Kontakte zu den deutschen Waldensern, die als Kolonisten gekommen waren. Das zweisprachige Saaz (Žatec) sandte Boten aus, um in Deutschland für die Hussiten zu werben. Der tschechische Bischof Jan von Olmütz distanzierte sich von den Hus-Anhängern, der deutsche Erzbischof von Prag, Konrad, hingegen sympathisierte mit der Bewegung. Gemäßigte Hussiten schufen nach den Basler (Prager) Kompaktaten von 1436 in Böhmen eine von Rom unabhängige Kirche, die im Laufe der Jahre weitgehend verschwand und 1919 von neuem gegründet wurde. Die Tschechoslowakische hussitische Kirche zählt heute rund 32000 Mitglieder.22 In seinem 1526 bis 1918 von Habsburgern regierten Heimatland grenzte man sich von Hus und seinen Reformideen eher ab.
Durch die von der österreichischen Kaiserin Maria Theresia (1717-1780) und ihrem Sohn Joseph II. (1741-1790) durchgesetzten Ideale der Aufklärung kam es zu einer Aufwertung des Bürgertums und einer größeren religiösen Toleranz.
Insbesondere das böhmische Bildungsbürgertum Prags, Olmütz’ und Brünns entdeckte im 19. Jahrhundert seine Sympathien für Jan Hus. Und das obwohl Hus kein typischer Vertreter der katholischen Kirche war, der zu diesem Zeitpunkt 95% der Tschechen angehörten. Im Rückblick auf Hus begriff man sich zusehends als unterdrückte Minderheit und bemühte sich um eine Förderung tschechischer Sprache und Kultur. Zur tschechischen Geschichte gehörte immer mehr auch die Erinnerung an Hus und die Hussiten. Dabei betonte man nicht so sehr dessen konfessionelle Zugehörigkeit, sondern seine Authentizität und Wahrhaftigkeit. Schließlich wollte Hus sich nicht der Gewalt beugen, sondern nur an der Bibel selbst beurteilt werden, wie später Luther.23
1916 wurde das monumentale Hus-Denkmal von Ladislav Šalonn auf dem Altstädter Ring in Prag enthüllt, eines der städtebaulichen Monumente des tschechischen Selbstbewusstseins.
Das auf dem Sockel eingravierte Hus-Zitat weist ihn als Kämpfer für die Wahrheit aus:
„Liebet Euch, gönnt jedem die Wahrheit. Haltet die Wahrheit bis zum Tode!”
Die 1918 in einer unblutigen Revolution entstandene Tschechoslowakische Republik wählte denn auch den Hus Ausspruch „Die Wahrheit siegt!” zu ihrem Wappenspruch. Ein Hus-Feiertag (6. Juli) in der Ersten Tschechoslowakischen Republik führte dann fast zum Bruch mit dem Vatikan. Wahrscheinlich trug die katholische Ablehnung von Hus dazu bei, dass unter dem Sozialismus ein Großteil der Tschechen ohne Bedenken die Kirche verließ, anders als beispielsweise die Polen.
Heute erinnert in Tschechien der offizielle Jan-Hus-Tag am 6. Juli an die Verbrennung des Reformators in Konstanz.
Hus und die katholische Kirche
600 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod wird Jan Hus recht unterschiedlich interpretiert: Hus – der häretische Spalter, der Nationalist. Hus, der Förderer tschechischer Kultur. Hus der Unabhängigkeitskämpfer. Hus, der Humanist. Hus, der Wahrheitssucher, der im Kampf gegen die Verweltlichung und sittliche Verwahrlosung der Kirche aus der Tiefe des Evangeliums schöpft. Wie jede große Gestalt der Geschichte wurde auch Hus zu einer Leinwand, auf der verschiedene Gruppen ihre Ideale oder Feindbilder projizierten.24
Selbst die katholische Kirche, die einst für seine Verurteilung verantwortlich war, ist heute auf Versöhnung gestimmt. Schon 1986 äußerte ein Professor der Katholischen Universität Lublin in der polnischen Wochenschrift Tygodnik powszechny, Jan Hus sei eigentlich kein Häretiker. Im Gegenteil, er habe in seiner Lehre einige Elemente des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) vorweggenommen. 1990, während seines Prag-Besuchs, setzte sich Papst Johannes Paul II. für eine Neubewertung des Tschechen ein. Ende 1999 nach einem Hus-Symposium an der Lateran-Universität lobte der Papst den „moralischen Mut” des Magisters „angesichts von Feindseligkeit und Tod”. Dadurch sei Hus „zu einer Figur von besonderer Bedeutung für das ganze Volk” geworden.25
Theologen- und Historikerkommissionen haben auf Wunsch des Papstes ein neues Hus-Bild gezeichnet. Eigentlich sei der populäre Tscheche ein überzeugter Katholik gewesen, der europäischer Machtpolitik zum Opfer gefallen sei. Bedauert wird seither der grausame Tod des Reformers. Für sein Sterben aber sieht man sich nicht verantwortlich, weil, wie damals üblich, der Staat die Hinrichtung durchführte – im Auftrag der Kirche allerdings.
Hus und die Protestanten
Von der starken Bibelzentrierung Hus’ geprägt, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Gemeinschaft der Böhmischen und Mährischen Brüder, die sich engagiert der protestantischen Weltmission widmeten. In der Gegenreformation flüchteten viele Hussiten und Böhmische Brüder Anfang des 18. Jahrhunderts nach Sachsen. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) gewährte ihnen Asyl. In der Oberlausitz entstand unter Anteilnahme dieser Flüchtlinge das Dorf Herrnhut und die Herrnhuter Brüdergemeine.26 Die weltweit vertretene Moravian Church sieht sich bis heute in der theologischen Tradition Jan Hus’.27
Im Laufe der katholischen Gegenreformation verließen 150.000 protestantische Flüchtlinge Böhmen, unter ihnen der Theologe und Pädagoge Jan Amos Comenius (1592-1670), der in den toleranten Niederlanden Zuflucht fand.
Der Streit um die Reformation in Böhmen wurde schließlich zum Auslöser des 30-jährigen Krieges. Zu dessen Beginn erklärten sich die Tschechen unabhängig von Österreich und beriefen 1619 den Kurfürsten von der Pfalz statt des Habsburgers Ferdinand II. zum böhmischen König.
Die brutale Niederschlagung des Aufstands durch österreichische Truppen bewegte die deutschen protestantischen Fürsten zum militärischen Eingreifen; wodurch der 30-jährige Krieg begann (1618-1648).
Unter den österreichischen Habsburgern kam es in der Zeit des Barock (1575-1770) zu einer Verbindung von absoluter Herrschermacht und katholischer Religion, in der andersdenkende, religiöse Minderheiten verfolgt wurden. Die Erinnerung an Jan Hus wurde in Tschechien unter anderem durch Literatur aus den pietistischen Franckeschen Stiftungen in Halle gefördert.28
Bis heute ist Jan Hus vielen Protestanten als Vorläufer der Reformation in guter Erinnerung. Seine Bereitschaft für die Priorität der Bibel in Fragen der Theologie und des christlichen Lebens einzustehen und zu leiden, fordert bis heute heraus. Auch in der Gegenwart werden immer wieder philosophische Konzepte, scheinwissenschaftliche Paradigmen, religiöse Modelle und persönliche Erfahrungen anstatt der Bibel als Grundlage christlichen Lebens und Denkens herangezogen. Angesichts dieser Entwicklungen ist Jan Hus’ „Zurück zur Bibel” nach wie vor aktuell.
Vgl. Weltereignis des Mittelalters: das Konstanzer Konzil, http://www.konstanzerkonzil2014.de; auf der Seite www.konstanzer-konzil.de findet sich ein aktueller Veranstaltungskalender. ↩
Zitiert nach: Brigitte Esser: Daten der Weltgeschichte: Personen, Ereignisse, Zusammenhänge, wissenmedia Verlag, Gütersloh 2004, S. 465 / Petrus de Mladenovic: Zpráva o mistru Janu Husovi v Kostnici, Praha, Universita Karlova 1965. ↩
Vgl. Philipp Charwath: Kirchengeschichte – Ein Lesebuch, Berlin: Holtzbrinck epubli GmbH, 2011: S. 490f. ↩
Vgl. K. Walcher: Verschiedenes aus der Zeit der Konstanzer Kirchenversammlung, Schriften der Gesellschaft für Beförderung der Geschichtskunde, 1, 211, Freiburg 1828. ↩
Vgl. Rolf Zimmermann: Am Bodensee, Verlag Friedrich Stadler, Konstanz 2004, S. 9. ↩
Vgl. Adam Lebrecht Müller: Des standhafftigen Märtyrers M. Johann Hußens, Predigers und Professoris zu Prag, Entdecktes Lutherthum vor Luthero: Darinnen Er die ungegründeten Menschen-Lehren der Römischen Kirche, Welche Lutherus hernachmals deutlich geoffenbahret, gründlich zu widerlegen gesucht, Jena 1728; digitalisiert unter: http://dfg-viewer.de/show/?set[mets]=http%3A//digitale.bibliothek.uni-halle.de%2Foai%2F%3Fverb%3DGetRecord%26metadataPrefix%3Dmets%26identifier%3D3254273. ↩
Vgl. Helmut G. Walther: Magister Jan Hus, 1370-1415. Sein Weg nach Konstanz, in: Johannes Hus in Konstanz, hg. Stadt Konstanz Hrsg., Konstanz 1985, S. 31-34. ↩
Vgl. Helmut G. Walther: Magister Jan Hus, 1370-1415. a.a.O., S. 35f. ↩
Vgl. J. Novotny (Übers.): Johannes Hus – Predigten über die Sonn- und Festtagsevangelien des Kirchenjahres, Bd. 1, Görlitz 1855, S. 71-75. ↩
Vgl. Jakub Šiška: Jan Hus und die Prager Universität, Radio Prag, 6.7.2012, http://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/jan-hus-und-die-prager-universitaet ↩
Vgl. Helmut G. Walther: Magister Jan Hus, 1370-1415. a.a.O, S. 40-43. ↩
Vgl. Jakub Šiška: Jan Hus und die Prager Universität, Radio Prag, 6.7.2012, http://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/jan-hus-und-die-prager-universitaet. ↩
Jan Hus, zitiert nach: Helmut G.Walther: Magister Jan Hus, 1370-1415. Sein Weg nach Konstanz, in: Johannes Hus in Konstanz, hg. Stadt Konstanz, Konstanz 1985, S. 49. ↩
Vgl. Bernhard M. Baron, Der Zug des Magisters Jan Hus 1414 durch die Obere Pfalz. In: Oberpfälzer Heimat Bd. 37 (1993), Weiden i.d.OPf., S. 75–80. ↩
Vgl. Rudolf Hoke: Der Prozeß gegen Jan Hus und das Geleit König Sigmunds. In: AHC (Annuarium Historiae Conciliorum) 15 (1983), S. 172–193. ↩
Zitiert nach: Art. Jan Hus, in: Ökumenisches Heiligenlexikon, http://www.heiligenlexikon.de/BiographienJ/Johannes_Jan_Hus.html, 15.4.2014. ↩
Vgl. Gerrid Setzer: Jan Hus – Märtyrer für Christus, in: Folge mir nach, Heft: 2007/2, S. 31f. ↩
Zitiert nach: Marcus Mockler: Der Unbeugsame aus Prag, epd 24.11.2013, http://aktuell.evangelisch.de/artikel/90087/der-unbeugsame-aus-prag. ↩
Vgl. Helmut G. Walther: Magister Jan Hus, 1370-1415. a.a.O., S. 69-72. ↩
Zitiert nach Thomas Martin Buck: Die Chronik des Konstanzer Konzils 1414-1418 von Ulrich Richental, Ostfildern 2010, S. 68. ↩
Martin Luther: WA 1,555f.; WA 2,275f, 299; vgl. W. Köhler: Luther und die Kirchengeschichte nach seinen Schriften, Erlangen 1900, S. 167-236. ↩
Vgl. Ferdinand Seibt (Hg.): Jan Hus – Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. Vorträge des internationalen Symposions in Bayreuth vom 22. bis 26. September 1993, München: Oldenbourg, 1998 / Ferdinand Seibt: Jan Hus und die Tschechen, in: OST-WEST. Europäische Perspektiven 1/2000 (OWEP), http://www.owep.de/artikel/165/jan-hus-und-tschechen. ↩
Vgl. Seibt (Hg.): Jan Hus – Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. a.a.O. ↩
Vgl. Michael Lünstroth: Auf den Spuren von Jan Hus, Südkurier, Konstanz, 04.07.2012. ↩
Vgl. Gernot Facius: Die Wiederkehr des Johannes Hus, in: Die Welt, 14.2.2000, http://www.welt.de/print-welt/article502127/Die-Wiederkehr-des-Johannes-Hus.html. ↩
Vgl. Dietrich Meyer: Zinzendorf und Herrnhut, in: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Martin Brecht / Klaus Deppermann Hrsg., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1995, S. 20-25 ↩
Vgl. A Brief History of the Moravian Church, in: http://www.moravian.org/the-moravian-church/the-moravian-church/history.html, 15.4.2014. ↩
Z.B. in: Johann Göbel: Bericht Philipp Reinbachers über dessen Behandlung durch die Salzburger Katholiken, 1732, S. 569; Studienzentrum August Hermann Francke – Archiv Signatur: AFSt/M 5 C 5 : 50. ↩