ThemenGlaube und Wissen(schaft), Weltanschauungen

Eine missglückte Verteidigung des Naturalismus

Anmerkungen zu einer Erwiderung auf eine Rede von John Lennox

Anlässlich einer Rede 1 des Oxforder Mathematikers und Wissen­schafts­philosophen John Lennox über die Verein­barkeit von Glauben und Wissenschaft hat Volker Dittmar von der AG Evolutionsbiologie eine Entgegnung geschrieben.2 In diesem Diskussionsbeitrag werden einige seiner Kritikpunkte analysiert.

Lennox geht in seiner Rede auf das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft ein und weist nach, dass der Konflikt nicht zwischen Glauben und Wissenschaft, sondern zwischen Theismus und Atheismus liegt. Zuerst zeigt er auf, dass man nach Gesetzen in der Natur suchte, da man an einen Gesetzgeber glaubte. Anschließend wirft er die Frage auf, wieso wir unserem Gehirn glauben sollten, wenn es durch einen blinden, ungesteuerten Prozess geformt wurde – damit wird der Argumen­tation des Atheisten die Grundlage entzogen. Lennox räumt mit der alten Vorstellung auf, dass religiöser Glaube mit blindem Glauben gleichzusetzen ist. Als Beispiel dafür nimmt er den Apostel Lukas, der sich als zuverlässiger Historiker erwiesen hat. Lennox geht noch einen Schritt weiter, indem er am Beispiel der Entstehung des Strahltriebwerks argumentiert, dass wir nicht zwischen „Sir Frank Whittle und Naturwissenschaft als Erklärung für das Strahltriebwerk wählen müssen“. Frank Whittle ist die Erklärung dafür, wieso das Strahltriebwerk überhaupt erfunden wurde und die Naturwissenschaft erklärt, wie es funktioniert. Im Weiteren zeigt Lennox, dass das Thema Glauben und Wissenschaft auch für den nicht-interessierten Laien in seinem Alltag von großer Relevanz ist. Das wird deutlich, wenn wir zum Beispiel fragen: Wieso sollten wir unserem moralischen Urteilsvermögen trauen, wenn es sich doch nur auf „ungelenkte natürliche Prozesse“ zurückführen lässt? Oder: Wo bleibt die Gerechtigkeit in einer gottlosen Welt?

Im folgenden Text möchte ich einige Kritikpunkte von Volker Dittmar erläutern und auf sie eingehen.

Der Beginn der Naturwissenschaft

Hätte John Lennox mehr über die alten Griechen gewusst, so Dittmar, wäre ihm nicht entgangen, dass die Griechen als Erste Naturwissenschaft betrieben. In Lennox‘ Büchern Hat die Wissenschaft Gott begraben? sowie Stephen Hawking, das Universum und Gott wird jedoch genau diese Frage gründlich beleuchtet. Im erstgenannten Buch geht Lennox auf die ersten Naturwissenschaftler (z. B. Thales) ein, die begannen, die Götter in die Sphäre der Mythologie zu verbannen (Lennox 2009, S. 69). Lennox geht jedoch noch weiter und zeigt auf, dass dies schon die Hebräer lange vor den Griechen taten, da sie sich gegen die Vergötterung des Universums (Götter, die Naturereignisse geschehen lassen) wandten und an einen einzigen transzendenten Gott glaubten (Lennox 2009, S. 70-71). Im Weiteren beschreibt er, dass sich in Kulturen wie China, die nicht monotheistisch geprägt waren, nur sehr langsam ein Verständnis für die Natur­wissenschaften entwickelten (Lennox 2009, S. 30). Dagegen waren einflussreiche Forscher wie Kepler, Galilei oder Newton maßgeblich vom biblischen Schöpfungsglauben motiviert.

Tatsachen wie diese legen nahe, dass – wie oben bereits erwähnt – ein großer Teil der Väter der modernen Natur­wissenschaft „Gesetze in der Natur (erwarteten), da sie an einen Gesetzgeber glaubten“. Aus diesen Gründen – so Lennox – hat der Glaube an Gott die Naturwissenschaften zum Laufen gebracht.

In diesem Zusammenhang legt Dittmar gleichsam eine Gedenkminute für Giordano Bruno und Galileo Galilei ein. Diese beiden Forscher seien sozusagen Glaubenshelden – nicht wegen ihres Glaubens an Gott, sondern in ihrem Einsatz für die Wissenschaft gegen den Widerstand der Kirche. Doch dieses weit verbreitete Vorurteil, dass die Kirche ständig die Wissenschaft behinderte und es noch immer tue, kann mit guten Gründen angezweifelt werden. Lennox und andere vor ihm haben jedenfalls nachgewiesen, dass es nicht zuerst die katholische Kirche war, bei der Galilei auf Widerstand stieß, sondern dass Professoren Einspruch anmeldeten, die an ihrem aristotelischen Weltbild festhielten und versuchten, die kirchlichen Autoritäten zu beeinflussen (Lennox 2009, S. 34). Außerdem landete Bruno nicht aufgrund seiner wissenschaftlichen Weltsicht auf dem Scheiterhaufen, sondern wegen seines Widerstands gegen einige kirchliche Dogmen (Blumberg 1975, S. 416-452) – eine Tragik, die nicht geleugnet werden darf.

In einem rationalen Diskurs kommen jedoch auch die Fehler der eigenen Seite zur Sprache! So muss immer wieder daran erinnert werden, dass atheistische politische Systeme der Welt weitaus mehr Schaden zugefügt haben als die Aufsummierungen der Missbräuche des christlichen Theismus. Allein unter dem kommunistischen Diktator Mao Zedong sind mindestens 45 Millionen Tote zu beklagen, unter Stalin starben ca. 20 Millionen Menschen und Pol Pots Regime brachte 3,3 Millionen Menschen zu Tode. Das sind insgesamt mehr als die Hälfte der gegenwärtigen Anzahl der Bewohner Deutschlands.3

Lennox der Ungebildete

Im zweiten Teil seiner Entgegnung argumentiert Dittmar, dass die Gleichförmigkeit der Natur kein Indiz für Gott sei, sondern die Grundlage für den Atheismus bilde. Außerdem, so der Autor, sollten wir uns über Wunder nicht wundern, da wir gar nicht wissen, was sie verursacht.4 Nehmen wir den ersten Teil der Argumentation etwas genauer unter die Lupe.

„Wenn es keinen Schöpfergott gibt“, so schließt Dittmar, „dann muss es zwangsläufig so sein, dass die Natur nach festen Prinzipien (Naturgesetzen) funktioniert.“ Angenommen es ist wahr, dass es keinen Gott gibt, der ins Universum hineinwirkt, dann folgt logisch, dass die Naturgesetze keinen Gott brauchen. Diese Argumentationslinie hat auch Dittmar im Auge. Das Problem mit dieser Aussage ist jedoch, dass Dittmar das zu Beweisende schon voraussetzt. Er nimmt an, dass es keinen Gott gibt und dass die Naturgesetze deshalb ohne Gott erklärbar sind. Woher aber nimmt Dittmar seine Sicherheit, dass es keinen Gott gibt? Und wie begründet Dittmar, dass in einem Universum, in dem es Gott nicht gibt, überhaupt Naturgesetze existieren müssen? Man könnte sich, falls es im Rahmen des Atheismus überhaupt ein Universum gäbe, ein chaotisches Universum ausmalen, in dem es keine Naturgesetze gibt und Äpfel manchmal die Bäume hinunter und manchmal die Bäume hinauf fallen.5 Hinzu kommt, dass die gewaltige Naturordnung im Rahmen des Atheismus erklärt werden müsste, was vom Autor gar nicht erst ansatzweise versucht wird. Dass unser Universum, das zutiefst intelligent und geordnet ist, durch eine nicht-ordnende nicht-intelligente Naturkraft entstehen könne, klingt äußerst seltsam. Außerdem gäbe es in einem solchen Universum höchstwahrscheinlich gar keine Ordnung und die Entropie wäre maximal (Widenmeyer 2014). Wieso das Universum, falls es keinen Gott gibt, nach festen Prinzipien funktionieren muss, wird aus Dittmars Artikel nicht ersichtlich.

Die Antwort auf die zweite Frage gibt sich Dittmar ironischerweise selbst. Schon im nächsten Abschnitt kommt der Autor zum Schluss: „Könnte man eine Auswirkung nachweisen, etwa beim Beten, müssten auch Wissenschaftler die Möglichkeit, dass der angebetete Gott vorhanden ist, in Betracht ziehen“, wobei er noch hinzufügt: „Alle bisherigen Versuche in diese Richtung verliefen indes negativ.“ Woher weiß er das und stimmt das überhaupt?

In seinem 2011 veröffentlichten Werk Miracles – The Credibility of the New Testament Accounts geht Craig S. Keener auf beinahe 1200 Seiten auf hunderte von Wundern in der heutigen Zeit ein, wobei bei einigen sogar medizinische Dokumentationen vorliegen.6 Die Fälle, die Keener beschreibt, sind meistens mit Gebeten verbunden. Die Behauptung, es gebe keine belegten Beispiele für die Auswirkung von Gebeten steht auf schwachen Füßen. Außerdem würde daraus, dass Gott unsere Gebete nicht erhört, nicht logisch folgen, dass Gott keine Wunder tut. Es wäre vorstellbar, dass er Wunder unabhängig von unseren Gebeten macht.

Im weiteren Text argumentiert der Autor wie folgt: „Da übernatürlich ein Synonym ist für »wir wissen es nicht«, wird jede Erklärung unbrauchbar, wenn wir Ignoranz als ihr Fundament ansehen.“ Dittmars Definition von „übernatürlich“ ist seiner naturalistischen Weltan­schau­ung geschuldet. Er setzt genau das voraus, was er ohnehin glaubt: Es darf nichts Übernatürliches geben. Wenden wir die Gleichsetzung („übernatürlich“ = „unbekannte Ursache“) nur einmal auf die Frage an: „Wie wird das Wetter in einem Monat sein?“ Meteorologen werden antworten: „Wir wissen es nicht.“ Nach Dittmar wäre diese Aussage also synonym mit „Das Wetter ist übernatürlich.“ Dittmars Aussage ist also schlecht durchdacht, da nicht alles, was wir nicht wissen, per se übernatürlich ist. Lassen wir John Lennox zu Wort kommen:

„Als Sir Isaak Newton das Gravitationsgesetz entdeckte, sagte er nicht: ‚Ich habe den Mechanismus entdeckt, der die Planetenbahn bestimmt, daher gibt es keinen Urheber-Gott, der ihn plante.‘ Sondern ganz im Gegenteil. Gerade weil er die Abläufe nun verstand, wurde er zu größerer Bewunderung des Gottes bewegt, der alles auf diese Weise geplant hatte“ (Lennox 2009, S. 65).

Wie Lennox in seinem Buch Hat die Wissenschaft Gott begraben? ausführt, beruht sein Verständnis von Gott nicht in erster Linie auf dem, was wir nicht wissen, sondern auf dem, was wir wissen – nämlich, dass das Universum rational verstehbar ist. Er fragt sich zum Beispiel, wie es kommt, dass die Gleichungen, die sich Mathematiker vor langer Zeit ausgedacht haben, im Nachhinein auf die Gesetze der Natur angewandt werden können (Lennox 2009, S. 87) – was sicherlich kein Argument der Ignoranz ist.

Nichts als Konflikte …

„Einen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Gott gibt es immer dann, wenn man ein supernaturalistisches Geistwesen als Ursache weltlicher Vorgänge postuliert“, meint Dittmar in seiner Entgegnung auf die Lennox-Rede. Das Problem dieser Aussage ist, dass es an sich schon impliziert, dass alles einmal durch weltliche Vorgänge erklärt werden kann. Das zu Beweisende wird auch hier von Dittmar schon vorausgesetzt. Der Naturalismus (Natur ist alles, was es gibt) oder der Atheismus wird mit der Wissenschaft von vornherein gleichgesetzt. Nehmen wir als Beispiel das Design-Argument in der Biologie sowie in der Kosmologie. Das Design-Argument in der Biologie besagt, dass einige biologische Strukturen besser durch Planung erklärt werden können als alleine durch natürliche, ungelenkte Prozesse (vgl. Junker 2010). In der Kosmologie wird der Schluss auf Design oft in Anbetracht der Feinabstimmung der physikalischen Gesetze und Konstanten gezogen.7

Es entstünde erst ein Konflikt zwischen dem Design-Argument8 und wissenschaftlichen Befunden, wenn gezeigt werden könnte, „dass geistlose, ungelenkte, natürliche Prozesse“ hochkomplexe (u. a. nichtreduzierbar komplexe) biologische Strukturen entstehen lassen können; oder im Falle der Kosmologie, dass die Feinabstimmung der Natur­kon­stanten ohne Intelligenz entstehen konnte. Dies ist bei ersterem jedoch fraglich (vgl. Lennox 2009, S. 111-210). Bei letzterem werden von Natura­listen oft Multiversen (unzählige Universen) herangezogen, um die Wahr­schein­lichkeit der feinabgestimmten Konstanten unseres Universums plausibler zu machen. Dies ist jedoch eine unüberprüfbare, aus der Luft gegriffene Hypothese und kann nach Dittmars eigener Logik als „Pseudoerklärung“ zur Seite gelegt werden, die er gerade Lennox auf der anderen Seite vorwirft.

Unser Gehirn

Lennox wies in der eingangs erwähnten Ansprache darauf hin, dass man, um überhaupt Wissenschaft betreiben zu können, an die Zuverlässigkeit unserer eigenen mentalen Fähigkeiten glauben muss. Er macht in seiner Rede eine Analogie dazu: „Wenn Sie glauben würden, Ihr Computer sei das Produkt geistloser Prozesse, würden Sie ihm vertrauen?“

Dittmar geht in seiner Analyse erst gar nicht auf den Hauptpunkt ein, sondern kritisiert nur die Analogie. In seiner Entgegnung weist er darauf hin, dass ein Computer nicht mit einem Menschen zu vergleichen ist, da dieser sich nicht vermehrt und somit keine Mutationen weitergibt.9 Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Organismen laut Dittmars Weltbild ganz ohne Intelligenz entstanden sind, der Computer jedoch von einem intelligenten Wesen programmiert wird.

Die wirkliche Frage ist die, die der Chemiker J. B. S. Haldane vor langer Zeit gestellt hat und von Lennox immer wieder in Erinnerung gerufen wird und in Dittmars Artikel nur angeschnitten wurde:

„Wenn die Gedanken in meinem Verstand nur die Bewegungen von Atomen in meinem Gehirn sind – ein Mechanismus, der durch geistlose, ungesteuerte Prozesse entstanden ist, warum sollte ich dann irgendetwas glauben, das mir dieser Verstand sagt – einschließlich der Tatsache, dass mein Gehirn aus Atomen besteht?“ (in Lennox 2013, S. 70).

Wenn unser Geist lediglich in blinden, physikalischen Prozessen gefangen ist, dann haben wir keine Möglichkeit rational zu urteilen. Unsere Gedanken sind dann lediglich eine Zusatzerscheinung (Epiphänomen) der Materie, was bedeuten würde, dass die Materie unseren Geist beeinflussen kann, unser Geist jedoch nicht die Materie und völlig wirkungslos wäre. Die ganze Thematik lässt sich bei Lennox (2009 und 2013) noch genauer nachlesen.

Das Argument wurde vom Philosophen Alvin Plantinga (Plantinga 2011, S. 307-350) noch weiterentwickelt.10 Er argumentiert, dass natürliche Selektion nur einen Einfluss auf die neurophysiologischen Strukturen hat. Wenn der Inhalt der neurophysiologischen Struktur adaptiv ist, dann wird das Tier überleben. Das sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob der Inhalt auch wahr ist. Plantinga veranschaulicht dies anhand eines Beispiels: Ein Frosch, der auf einer Lilie sitzt und nach Fliegen schnappt muss zum Überleben nur die neurophysiologische Struktur „nach Fliegen schnappen“ haben. Ob er dabei denkt, dass er einen Prinzen küsst oder etwas Ähnliches spielt keine Rolle.11 Wenn der Naturalismus wahr ist, so das Argument, dann müssen wir annehmen, dass unsere kognitiven Fähigkeiten nicht zuverlässig sind, was bedeutet, dass jegliches Argumentieren von Seite eines Atheisten nichts bringt. Dieses Beispiel veranschaulicht gut, dass Atheisten auch einen Glauben besitzen.

Definitionsversuche

Als Atheist ist Dittmar zum einen überzeugt, dass sein Glaube kein Glaube ist.12 Zum anderen hält er daran fest, dass religiöser Glaube „blind“ sei.13 Er erklärt: „Religiöser Glaube verzichtet auf rationale Rechtfertigung.“ Lennox hat dieses Thema an anderer Stelle schon ausführlich behandelt. Darin weist er darauf hin, dass diese Einschätzung sicherlich von den meisten ernsthaften Gläubigen nicht geteilt wird (Lennox 2009, S. 23) und dass diese Behauptung gerne von den neuen Atheisten aus der Trickkiste gezogen wird (Lennox 2013, S. 56-58). John Lennox zeigt in seinen Büchern auch auf, dass schon die ersten Christen Glauben nicht als blinden Glauben verstanden haben. So zitiert er den Apostel Johannes, der sagt: „Diese (Dinge) aber sind geschrieben, damit ihr glaubt.“ Er hatte gute Gründe für seinen Glauben (Lennox 2013, S. 33). Nicht anders ist es bei Menschen, die an einen Schöpfer glauben (vgl. die obigen Ausführungen zu den Gründen für den Glauben).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Es scheint, dass Dittmars Statement, dass religiöser Glaube blind ist, seinem eigenen Glauben zuzuordnen ist, da er in seiner Entgegnung für die Definition von Glauben jegliche rationale Rechtfertigung ignoriert.

Lukas

Zurück zu den Evangelien. Dittmar empört sich über Lennox, da dieser Lukas als Historiker ansieht. Er gibt zu bedenken, dass Lukas viel mehr „ein anonymer Autor ist, für den es keine unabhängigen Indizien gibt“. Es ist bezeichnend, dass Dittmar erst gar nicht auf Lennox‘ eigentliche Aussage eingeht, dass das Lukasevangelium in einem historischen Stil geschrieben ist, eine Einschätzung, die von der Mehrzahl der Gelehrten vertreten wird (Keener 2009, S. 85-94). Der hoch angesehene, verstorbene Archäologe Sir William Ramsay z. B. sieht Lukas als einen „Historiker ersten Ranges“ (Ramsey [1851-1939] in McDowell 2002, S. 122). Dittmars Einwand, dass es für Lukas keine unabhängigen Indizien gibt, ist zudem schlichtweg falsch.14 Irenäus (135-202 n. Chr.) berichtet, dass der Begleiter von Paulus, Lukas, das Evangelium, das Paulus predigte, niedergeschrieben hat. Irenäus hatte diese Informationen von seinem Lehrer Polycarp, der sie wiederum von den Augenzeugen Jesu erhalten hat (Jones 2007, S. 104).

Werte

Dittmar gibt zu bedenken, dass es nicht besser wird, „wenn man seine Weltanschauung von den Konsequenzen her zu ‚begründen‘ sucht.“15 In anderen Worten: Die Aussage, dass es ohne den christlichen Glauben keine objektiven Werte gäbe, oder dass man sich mit einem Gott besser fühlt, sagt noch nichts darüber aus, ob das Christentum wahr oder falsch ist. Dass Dittmar dies hier sagt, ist verwunderlich, denn Lennox stimmt diesem Punkt voll und ganz zu.16

Dittmar und Lennox sind sich einig, dass im praktischen Lebensvollzug oft kein Bezug zu Gott hergestellt wird, um zu begründen, was unserer Ansicht nach moralisch richtig und falsch ist. Jeder – egal mit welcher Weltsicht – kann moralisch handeln. Lennox‘ Frage geht jedoch viel tiefer. Was ist, wenn unsere Ansicht nicht korrekt ist? Der agnostische Philosoph Michel Ruse und der Insektenkundler E. O. Wilson formulieren es wie folgt:

„Suppose, that, instead of evolving from savannah-dwelling primates, we had evolved in a very different way. If, like the termites, we needed to dwell in darkness, eat each other’s faeces and cannibalise the dead, our epigenetic rules would be very different from what they are now. Our minds would be strongly prone to extol such acts as beautiful and moral. And we would find it morally disgusting to live in the open air, dispose of body waste and bury the dead. Termite ayatollahs would surely declare such things to be against the will of God“ (Ruse & Wilson 1985, S. 52).

Das Problem eines Naturalisten besteht darin, dass er keinerlei Handhabe hat, moralische Werte zu rechtfertigen, da moralische Empfindungen für ihn nur das Ergebnis eines blinden natürlichen Prozesses sind. Es stellt sich die Frage, an welchen Maßstäben etwas Moralisches festgemacht werden kann. Moralische Empfindungen können für Dittmar jedenfalls nur ein Nebenprodukt und ein Epiphänomen der evolutionären Vergangenheit sein. Man könnte nicht sagen, ob Mao oder Mutter Theresa die bessere Moral hatte.

Im Weiteren ist Dittmar davon überzeugt, dass im Christentum „jeder seine eigene (moralische) Ansicht für die von Gott hält“ und deshalb „die Wertbegründung aufgrund des Christentums sehr problematisch“ sei.17 Nur weil manche Christen unethische moralische Vorstellungen haben, heißt das aber nicht, dass diese auch Gottes moralischen Vorstellungen oder Geboten entsprechen.18 Wie sollte man andererseits im Rahmen des Atheismus die Moral begründen, wenn jeder verschiedene Vorstellungen von Moralität hat? Ich möchte Herrn Dittmar daran erinnern, dass kein anderer als Dawkins, dessen Buch Der Gotteswahn er für „besser als seinen Ruf“ hält19, ermutigt, aktiv Gläubige zu diskriminieren.20 Soll man daraus schließen, dass die Wertebegründung aufgrund des Atheismus „sehr problematisch“ ist? Außerdem ist Dittmars Aussage zu steil formuliert, da der Artikel, auf den sich Dittmar sekundär bezieht, nur auf einzelne moralische Ansichten eingeht.21

Freude an Freud, Nietzsche und Plato

Im Weiteren glaubt Dittmar mit Platos Euthyphro-Dilemma ein starkes Argument zu haben, das „von Lennox und Konsorten (=Mitstreiter)“ angeblich übersehen wird. Dieses Dilemma besteht darin, dass Gott entweder Gut und Böse nach seinem Willen bestimmt, wobei er die Begriffe auch vertauschen könnte (z. B. die Großmutter mit Arsen zu vergiften als gut zu bezeichnen), oder dass er das Gute aussucht, weil es an sich gut ist. Letzteres hätte dann jedoch zur Folge, dass das Gute über Gott steht und dass Gott nicht mehr als „das Höchste“ angesehen werden könnte. Eine mögliche Lösung zu diesem Dilemma ist jedoch bereits vorhanden. W. L. Craig (er gehört zu Lennox‘ „Konsorten“) zeigt überzeugend auf, dass das Dilemma gar kein richtiges Dilemma ist, da eine dritte Möglichkeit geboten werden kann.22 Indem man Gott als das ultimative Gute anschaut, muss dieser nicht mehr definieren, was gut und schlecht ist und auch nicht zwischen den beiden entscheiden.23

Die Frage, wieso Gott Leid in der Welt zulässt (Natur­katastrophen, Unglück des Hiob, Sintflut) ist damit jedoch noch nicht geklärt. Dies ist sicherlich eines der besseren Argumente, die man gegen den Theismus ins Feld rücken kann, und es stellt ein von Theisten anerkanntes schwieriges Problem dar.24

Lennox ging in seiner Rede darauf ein, dass Nietzsche die moralischen Konsequenzen des Atheismus sehr deutlich sah und fasst das treffend zusammen, wenn er sagt: „Wenn wir den christlichen Glauben über Bord werfen, führt das zum Verschwinden der christlichen Werte. Nicht mehr ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’; stattdessen der Wille zur Macht. Nicht mehr ‘Du sollst nicht’; stattdessen leben die Menschen nach dem Naturprinzip, dass die Starken die Schwachen unterdrücken oder vernichten.“ Dittmar bezweifelt dies einerseits, da er anmerkt, dass es mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu Nietzsches Textstellen gibt, andererseits merkt er an, dass diese Sicht „speziell in den Abschnitten, die Nietzsches Schwester gegen seinen Willen editiert hat“ vorkommt. Die zuletzt genannte Aussage ist jedoch überflüssig, da Lennox sich auf ein früheres Werk von Nietzsche bezieht.25 Es würde übrigens auch keine Rolle spielen, wer die Stelle editiert hat, da der Hauptpunkt ist, dass die Aussage sachlich korrekt ist.

Er argumentiert dann weiter, dass der Glaube „eine Art Opium für das Volk, Trostpflaster und Beruhigungstablette für den Geknechteten, Unterdrückten, Hoffnungslosen“ sei. Die Argumentation kann man jedoch problemlos umdrehen. So stellt z. B. Manfred Lütz fest:

„Umgekehrt könnte man übrigens unter der gegenteiligen Voraus­setzung, dass Gott existiert, die atheistischen Verhaltensweisen als völlig absurde Fluchtreflexe, mangelnde Stabilität einer Persönlichkeit mit Wirklichkeits­verlust und Unfähigkeit zu verlässlichen Beziehungen beschreiben – also ebenso als schwere Pathologie“ (Lütz 2009, S. 14).

Sinn

Schließlich argumentiert der Autor, dass das Leben auch ohne Gott einen Sinn habe. Er zählt Dinge wie z. B. Fortbestand, Freundschaften, sowie Beziehungen auf. Damit widerlegt er jedoch keineswegs Lennox‘ Ansicht, dass das Leben in diesem Falle keinen tieferen Sinn oder Zweck hat, der für uns bestimmt wurde. Wir wären dann alle nur Zufälle oder – wie manche sogar meinen – Unfälle. Oder wie William Lane Craig argumentiert: Wenn wir keinen letztgültigen Sinn des Lebens haben, heißt es noch lange nicht, dass wir keinen Sinn erfinden können.26 Ein vorübergehender Sinn, den man sich einredet (wie z. B. Freundschaft), und ein von den Lebensumständen unabhängiger dauerhafter Sinn sind zwei sehr verschiedene Dinge. Hinzu kommt, dass wenn die Empfindung eines Sinnes nur ein Epiphänomen unseres Gehirns ist, sich dieser sowieso nur als Illusion herausstellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Dittmar nicht im Geringsten mit Lennox‘ Werken auseinandergesetzt hat – oder dies jedenfalls nicht sichtbar macht. Er hantiert mit Widersprüchen (vgl. die Ausführungen zum Thema „Sinn“) und macht bloße Behauptungen (Euthyphro-Dilemma). Es werden oft voreilige Schlüsse gezogen (z. B. über Wunder) oder sogar Unwahrheiten propagiert (z. B. über Giordano Bruno). Eine ernsthafte, faire Auseinander­setzung sieht anders aus. Es ist zudem widersprüchlich, dass die AG Evolutionsbiologie einerseits versichert, dass in ihrer Organisation religiöse Neutralität herrsche27, andererseits mit dem Text von Dittmar offen für den Atheismus geworben wird.

Literatur

Berlinski D (2009) The Devil’s Delusion: Atheism and Its Scientific Pretensions. New York: Basic Books.

Blumenberg H (1975) Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Craig WL & Sinnott-Armstrong W (2004) God? A Debate between a Christian and an Atheist. Oxford; New York: Oxford University Press.

Jones TP (2007) Misquoting Truth: A Guide to the Fallacies of Bart Ehrman’s „Misquoting Jesus“. Downers Grove, Ill: IVP Books.

Junker R (2010) Spuren Gottes in der Schöpfung? Studium Integrale. Holzgerlingen, 2. Aufl.

Keener CS (2009) The historical Jesus of the Gospels. Grand Rapids: William B Eerdman.

Keener CS (2011) Miracles: The Credibility of the New Testament Accounts. Grand Rapids, Mich.: Baker Academic.

Law S (2011) Naturalism, evolution and true belief. Analysis, anr130. doi:10.1093/analys/anr130.

Lennox J (2009) Hat die Wissenschaft Gott begraben? Eine kritische Analyse moderner Denkvoraussetzungen. SCM R. Brockhaus.

Lennox J (2011) Stephen Hawking, das Universum und Gott. SCM R. Brockhaus.

Lennox J (2013) Gott im Fadenkreuz: Warum der Neue Atheismus nicht trifft. SCM R. Brockhaus.

Lütz MD (2009) Gott: Eine kleine Geschichte des Größten. Droemer Knaur.

McDowell J (2002) Die Bibel im Test. Bielefeld: CLV.

Plantinga A (2011) Where the Conflict Really Lies: Science, Religion, and Naturalism. New York: Oxford University Press, USA.

Plantinga A (2011) The Free Will Defense. In: Vaughn L (ed.) Great Philosophical Arguments. An Introduction to Philosophy. Oxford Univ. Press, S. 157-160.

Ruse M & Wilson EO (1985) The evolution of ethics. New Scientist, 17. Oktober 1985, S. 50-52.

Swinburne R (1977) The coherence of theism. Oxford: Clarendon Press.

Widenmeyer M (2014) Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus. Holzgerlingen. (erscheint voraussichtlich im September 2014)

Anmerkungen

1 http://bibelbund.de/2014/05/wer-wind-saet-wird-sturm-ernten-biblischer-glaube-hat-folgen-atheismus-aber-auch

Die Rede war in BGDL 103 (Mai 2014) vollständig abgedruckt. Der Widerspruch von Volker Dittmar bezieht sich auf die Erstveröffentlichung auf Wort und Wissen.de.

3 Dieses Argument wird gerne dadurch wegargumentiert, dass man sagt, dass Mao, Stalin und Pol Pot diese Massenmorde nicht aufgrund des Atheismus taten. Diese Sicht greift jedoch zu kurz.

Der Philosoph David Berlinski macht auf Folgendes aufmerksam: „What Hitler did not believe and what Stalin did not believe and what Mao did not believe and what the SS did not believe and what the Gestapo did not believe and what (…) a thousand party hacks did not believe was that God was watching what they were doing. And as far as we can tell, very few of those carrying out the horrors of the twentieth century worried over much that God was watching what they were doing either. That is, after all, the meaning of a secular society“ (Berlinski 2009, S. 26-27).

5 Lennox fragt, wieso es sein kann, dass die Welt Naturgesetzen folgt. Dittmar behauptet, dass diese Aussage ein Strohmannargument (selbstgebasteltes Argument, das man gleich widerlegt) sei, da er keinen Atheisten kenne, der nicht an die Naturgesetze glaube. Das ist jedoch nicht gar die Frage, sondern ein Ablenkungsmanöver. Die Frage ist vielmehr, wieso das Universum so ist, wie es ist und nicht, ob das Sosein von Atheisten bestritten wird.

6 Keener (2011) geht unter anderem auch auf die philosophische Debatte zu Wundern ein. Die letzten ca. 300 Seiten bestehen aus der Bibliografie und dem Index.

7 Z. B.: „Der Physiker Paul Davies merkt an, dass bei einer Abweichung im Verhältnis der starken Kernkraft zu der elektromagnetischen Kraft von 1 zu 1016 die Bildung von Sternen nicht möglich wäre“ (Lennox 2009, S. 101).

8 Dittmar argumentiert an anderer Stelle, dass sobald das Design-Argument angewendet wird, dieses auch auf Gott angewendet werden könne. Es sei deshalb noch viel unwahrscheinlicher, dass so etwas Komplexes wie Gott gibt, als dass ein weniger kompliziertes Bakterium entstehen konnte. Siehe: http://de.richarddawkins.net/foundation_articles/2013/12/14/das-design-argument. Dieses Argument wird von Lennox (2009, S. 251-256) schon zur Genüge diskutiert.

9 Sein Argument ist, dass Computer „keine Mutation, kein Wachstum, keine Selbstvermehrung und (…) keine natürliche Auslese“ haben – es deshalb keinen Selektionsvorteil in einer nächsten Generation gibt.

10 Die philosophische Debatte um das Argument ist immer noch im Gange. Siehe z. B. Law (2011).

12 Jedenfalls ist das diesem leicht sarkastischen Statement zu vernehmen: „Nun folgt die übliche Taktik, den Atheismus als einen »Glauben« hinzustellen“.

14 Es ist nicht genau ersichtlich, was Dittmar mit „unabhängig“ meint. Die beiden folgenden Beispiele sind von mir gewählt.

15 Es ist nicht ersichtlich, ob er das Argument auf die Moralität bezieht.

18 Diese Aussage ist nicht zu verwechseln mit derjenigen, die Dittmar an anderer Stelle behandelt (vgl. http://www.dittmar-online.net/wahre_schotten.html; 18. 4. 2014); es geht an dieser Stelle nicht um die Behauptung, dass nur Christen, die sich moralisch verhalten, wahre Christen sind, sondern um die Frage, ob ein Verhalten auf christlicher Basis (Jesus Worte und Taten) gerechtfertigt werden kann.

21 Der Artikel geht auf Dinge wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und weiteres ein. Vgl. http://www.pnas.org/content/106/51/21533.full (29. 5. 2014)

22 Andere Philosophen haben andere Lösungen vorgeschlagen. Vgl. z. B. Swinburne (1977, S. 203-209).

Der Theist muss nicht zeigen, dass die dritte Option wahr ist, sondern nur, dass es eine dritte Option gibt, denn dann ist ein Dilemma (zweigliedrige Annahme ohne Lösung), kein Dilemma mehr, da man zwischen drei Optionen wählen kann.

23 Diese Möglichkeit wird an anderer Stelle von Dittmar angetönt, jedoch wieder verworfen. http://www.dittmar-online.net/euthyphron1.html#head2

24 Plantinga bietet einen Lösungsvorschlag für einen Teil des Theodizeeproblems in: Vaughn L (2011) Great Philosophical Arguments: An Introduction to Philosophy, S. 157-160; Lösungsvorschläge in Bezug auf das Theodizeeproblem finden sich auch z. B. bei  Lee Strobel (2002) Glaube im Kreuzverhör. Ein Journalist hinterfragt das Christentum. Gerth Medien, S. 29-70.

25 Lennox fokussiert sich auf das Werk: Zur Genealogie der Moral (1887)

27 https://www.youtube.com/watch?v=VHyZsWLKsCA (21. 3. 2014); ab 2:14: „wir legen Wert darauf, dass wir weltanschaulich neutral sind … also einen Bright haben wir dabei, wir haben also einige Agnostiker und Atheisten, einen Katholiken, eine Hand voll Evangelische und auch einen Baptisten.“

 

Der Aufsatz ist auch Wort und Wissen Diskussionsbeitrag 3/14