ThemenBibelverständnis

Das große Gottesgeschenk – ein Bekenntnis zur Bibel

Kein Christ hat sich lange überlegt, welches Buch er mitnehmen sollte, wenn es ins Gefängnis oder hinter den Stacheldraht ging. Das konnte nur die Bibel sein. In den harten Jahren der beiden letzten Jahrzehnte hat die Bibel eine Feuerprobe bestanden. In unendlich schweren Situationen bewies sie ihre geheimnisvolle Kraft. Wer um ihr Geheimnis weiß, hat in ihr ein einzigartiges Gottesgeschenk, das Kräfte aus einer anderen Welt übermittelt.

Die Struktur der Bibel liegt auf einer völlig anderen Ebene als die aller sonstigen Bücher. Selbst wertvolle Auslegungen der Bibel und bedeutende Bücher, die aus ihr abgeleitet sind, besitzen diesen Charakter der Bibel nicht.

Ich liebe die theologische Arbeit an der Heiligen Schrift und halte echte Theologie für eine ganz entscheidende Hilfe zum Verständnis der Bibel. Ich freue mich der kleinen theologischen Standardbibliothek, die ich mir nach dem Kriege wieder habe aufbauen können. Aber keines dieser Werke hat den Charakter der Bibel, obwohl sie treue Gehilfen zu ihrem Verständnis sind. Über der Bibel liegt ein Geheimnis.

Ich stehe immer wieder staunend vor der Tatsache, dass wenige Worte der Heiligen Schrift Kräfte der Ewigkeit übermitteln können, die einen ganzen Tag und eine ganze Situation verändern. Derartiges ist keinem der theologischen Werke eigen, die ich so sehr liebe, und in denen ich mit Dank arbeite. Sie haben unendlich viel Gutes und Wertvolles. Ich möchte sie nicht entbehren. Aber ein Satz aus der Bibel, den der Geist Gottes aufschließt, ist etwas total anderes. Er enthält Leben aus der Ewigkeit.

Diese Tatsachen kann man nur in einem Bekenntnis aussprechen und bezeugen. Sie stehen jenseits der wissenschaftlichen Diskussion, Über der Bibel steht dasselbe Geheimnis, das über Jesus selbst steht, der der Mittelpunkt der Bibel ist. Es gibt keine intellektuelle Befähigung und keine noch so gediegene gedankliche Arbeit, die das Geheimnis der Person Jesu erschließen kann. Gedankliche Arbeit wird immer nur eine wertvolle Persönlichkeit in Jesus entdecken, die in einer wundervollen Beziehung zu Gott stand. Sie wird aber nie entdecken können, wer er eigentlich ist. Dass Jesus heute für uns da ist, dass wir mit ihm in Gemeinschaft treten können, dass er uns am Kreuz aufs völligste versöhnte, das alles kann nur eine Tat Gottes aufschließen.

Wenn diese grundlegende Tat des Geistes Gottes in uns geschieht, wird uns eine neue Welt aufgeschlossen, zu der wir mit unserer besten Begabung keinen Zugang haben. Es wird uns das Geheimnis der Person Jesu in einer überraschenden Weise erschlossen. Wir werden zu ihm als dem heutigen Herrn in eine lebendige Beziehung gesetzt. Das gleiche schöpferische Handeln des Geistes Gottes, das uns über Jesus Klarheit gibt, erschließt uns auch das Geheimnis der Bibel, daß sie uns der Quell ewiger Kräfte und die tiefste Autorität des Lebens wird.

Wer in der Bibel nur auf Grund seiner angeborenen Fähig-keit arbeitet, wird nie hinter ihr Geheimnis kommen. Es geht ihm so wie mit Jesus selbst. Wie er in Jesus nur einen wertvollen Menschen, aber nie den Herrn der Welt entdeckt, so findet er in der Bibel auch nur ein wertvolles menschliches Buch mit all den Fragwürdigkeiten, die jedem menschlichem Werk eigen sind. Ist uns aber ein anderer Zugang zur Bibel und ihrem eigentlichem Wesen geworden, dann leben wir aus ihr Tag um Tag und schöpfen Kräfte der Ewigkeit, die ihren göttlichen Ursprung außerhalb jeder Diskussion stellen.

Dieser Charakter der Bibel kann wissenschaftlich weder begründet noch verneint werden. Dieser Tatbestand liegt ebenso wie das Geheimnis der Person Jesu auf einer ganz anderen Ebene als auf der Ebene der menschlichen, gedanklichen, wissenschaftlichen Bearbeitung. Wir können nur staunen über dieses einzigartige Gottesgeschenk, das uns mit Jesus und der Bibel gemacht ist. Wir sehen mit unserem menschlichen Blick nur einen Menschen und ein menschliches Buch, aber mit dem Blick, den der Geist Gottes gibt, sehen wir Jesus den Herrn und Heiland der Welt und die Bibel, das Wort unseres Gottes, in dem das Leben der unsichtbaren Welt Gottes zu uns kommt.

Das hebt in keiner Weise die Freude an der gedanklichen, theologischen, wissenschaftlichen Bearbeitung der Bibel auf. Ich freue mich über alle Hilfe, die uns von daher wird, um die Gestalt unseres Herrn, sein Leben, seine Gemeinde und ihre Geschichte klarer zu erfassen. Wenn das Grundgeheimnis der Person Jesu und der Bibel erschlossen wurde, ist es eine Freude, sich von dieser Grundvoraussetzung aus in klarer Denkarbeit um eine echte Erfassung der Gestalt Jesu und der Botschaft der Bibel zu bemühen.

Aus vielen kleinen und großen Teilen ist die Bibel im Laufe eines Jahrtausends erwachsen. Unzulängliche Menschen haben daran gearbeitet. Sie erscheint wie ein buntes Mosaik. Und doch ist dieses auf scheinbar so menschliche Weise gewordene Buch das einzigartige Gottesgeschenk, aus dem wir überraschende Kräfte der Ewigkeit schöpfen. Es ist offenbar für den Grundcharakter der Bibel nicht entscheidend, aus wie vielen Teilen sie erwachsen ist. Es ist Gottes Wunderwerk, dass sie auf so mannigfaltigen Wegen das Buch wurde, das sie ist.

Wir sind der wissenschaftlichen Arbeit viel Dank schuldig, die uns die Entstehungsgeschichte der Bibel weitgehend erhellt hat. Wir verstehen ein Wort der Bibel ganz anders, wenn wir wissen, aus welcher Zeit gerade dieser Abschnitt stammt. Darum liebe ich die literarische Bearbeitung dieses Buches, weil seine Worte viel plastischer werden und an Kraft gewinnen, wenn wir sehen dürfen, in welcher Situation sie ursprünglich gesprochen oder geschrieben wurden.

Aber es gibt eine Grenze der Ehrfurcht in der literarischen Bearbeitung, die nicht überschritten werden sollte. Diese Grenze der Ehrfurcht läßt sich nicht in einer gesetzlichen Norm festlegen. Sie erlaubt uns nicht, die Substanz der Bibel anzutasten. Dazu hat sich dieses Buch zu eindeutig und klar in all seinen Teilen als das einzigartige Werkzeug Gottes erwiesen.

Die literarische Beurteilung einzelner Teile der Bibel ist in den letzten hundert Jahren einem vielfältigen Wechsel unterworfen gewesen. Die Abhängigkeit von der subjektiven Schau des Beurteilers ist nur zu deutlich. Das alles nötigt uns zu großer Bescheidenheit und Zurückhaltung. Wir sollten nie verschleiern, wo wir auch als Wissenschaftler nur ein relatives, bedingtes Urteil aussprechen, und ihm nie den Anschein einer absoluten Wahrheit geben. Wissenschaftliche Objektivität zwingt uns, auch in dieser Hinsicht ehrlich zu sein und die herben Grenzen unserer gedanklichen Arbeit und die Bedingtheit unseres Urteils auszusprechen; sonst werden wir an der Bibel und an der Gemeinde Jesu Christi schuldig.

Aus ehrfürchtigem Wissen um die Bedingtheit unserer wissenschaftlichen Arbeit und um das oben ausgesprochene Wesen der Bibel, das auf einer ganz anderen Ebene liegt, können wir vor manchem Abschnitt der Schrift, der uns ungelöste Fragen aufgibt, in Ehrfurcht stehenbleiben, ohne sein Geheimnis anzutasten. Es muss nicht alles für unsere verstandesmässige Arbeit zugängig sein. Die Wahrheit liegt oft weit über ihr.

Die glaubende Gemeinde kann dieses Buch, aus dem sie lebt, nur als das Geschenk Gottes sehen, dem dasselbe Geheimnis wie der Person ihres Herrn anhaftet. Es ist darum schwer für sie, wenn Hirten und Lehrer der christlichen Gemeinde die Grenze der Ehrfurcht überschreiten und die Substanz der Bibel antasten. Sie kann dazu nur ein tief schmerzliches, betrübtes Nein sagen und die Bitte aussprechen, aus Liebe zu der Gemeinde des Herrn Christus diese Grenzlinie nicht zu überschreiten, sondern in Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Bibel stehenzubleiben.

Aber es bleibt dabei, dass jeder, der im Glauben an Jesus als seinen Herrn gebunden wurde, unser Bruder ist, auch wenn er sein Verhältnis zur Bibel anders ausdrückt und nach unserem Verständnis jene Grenze der Ehrfurcht zu unserem Schmerz überschreitet — vielleicht aus vermeintlicher wissenschaftlicher Objektivität. Wen Jesus in seine Gemeinde aufgenommen hat, der ist unser Bruder, auch wenn wir manchem seiner Gedankengänge nicht zu folgen vermögen und vielleicht sogar die Arbeitsgemeinschaft mit ihm unmöglich wird. Unser Bruder bleibt er doch, weil er Jesus angehört.