Antwort:
Die Rede von Jesus Christus vom so genannten Völkergericht hat im Verlauf der Geschichte eine ganze Reihe von Deutungen hervorgebracht. So weit ich sehe, hatte das verschiedene Gründe. Einerseits ergeben sich Schwierigkeiten, wem dieses Gericht gelten soll, wenn man versucht, einen zeitlichen Ablauf der Endzeit zu erstellen und das Völkergericht darin einzuordnen. Andererseits haben viele Christen eine Antwort auf die Frage gesucht, ob nicht doch auch Menschen gerettet werden könnten, die nicht an Jesus Christus geglaubt haben. In dieser Geschichte haben sie dafür eine Möglichkeit gesehen. Ich zitiere einmal beispielhaft Gerhard Maier aus seinem Buch Er wird kommen (Wuppertal: Brockhaus, 1995), der vier oder sogar fünf verschiedene Gerichte sieht, wobei das Völkergericht das letzte sei:
„Erst dann findet das letzte, das ‚Jüngste Gericht’ statt (vgl. Mt 25,31-46; 1Kor 15,24-26; Offb 20,11-15). Hier werden alle gerichtet, die bis dahin nicht gerichtet worden sind. Dazu zählen: alle Menschen, die nicht im Glauben an Jesus verstorben sind und die sich auch nicht durch die Predigt von Jesus im Totenreich (1Petr 3,19; 4,6) bekehrt haben; der Tod und das Totenreich (Offb 20,14; 1Kor 15,24), die Anhänger Satans bei der Letzten Rebellion; alle Menschen, die im Tausendjährigen Reich verstorben sind. Da sich darunter auch echte Gläubige befinden, können auch beim Jüngsten Gericht Menschen dabei sein, die im Buch des Lebens stehen und gerettet werden (Offb 20,15). Zu diesen Geretteten werden diejenigen hinzukommen, die – ohne Gläubige im Vollsinn gewesen zu sein – den Jüngern von Jesus Gutes getan oder die Sache des Reiches Gottes gefördert haben (vgl. Mt 10,41-42; 25,27.40)” (S. 69-70; ebenso 101).
Es zeigt sich, dass eine bestimmte Herangehensweise leicht dazu führt, Spekulationen anzustellen, die über das dort Ausgesagte hinaus führen. Die Einordnung in einen zeitlichen Ablauf von Entrückung und Tausendjährigem Reich etwa führt gegen den Text zur Beschränkung der Teilnehmer an dem Gericht. Und steht hier wirklich, dass ganze Völker gerettet werden oder Menschen, die nicht an Jesus geglaubt haben, sondern – vielleicht sogar wie etwa Tolstoi es verstehen wollte – unbekannten Bedürftigen Gutes getan haben?
Jesus spricht hier offenbar vom letzten Gericht, das er selbst als königlicher Richter vollziehen wird. Er spricht in dieser Geschichte nicht alle Aspekte des Gerichtes an, sondern betont zwei Gesichtspunkte: die scharfe Trennung und den Grund für die scharfe Trennung. Wir müssen in dieser Schilderung nicht nach den Thronen für die Jünger suchen, die die Stämme Israels richten werden (Mt 19,28), wir müssen nicht die Verantwortung für jedes unnütze Wort einordnen (Mt 12,36) oder die anderen Aspekte des letzten Gerichtes (etwa die Auferstehung Mt 22,30), die an anderen Stellen angesprochen werden. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht möglich ist, ein einheitliches Bild des Gerichtes zu malen, dass aber trotzdem alle Aussagen über das Gericht des Herrn Jesus eine klare Einheit bilden und sich gegenseitig ergänzen.
Das Gericht umfasst am Ende der Zeiten „alle Völker”. Matthäus benutzt das Wort ethne in seinem Evangelium sowohl als Bezeichnung für die nichtjüdischen Völker (4,15; 6,32; 10,5; 20,19 u.ö.) als auch in der Verbindung mit panta (alle) für alle Völker, die Juden eingeschlossen (24,7.9.14; 28,19). Jesus spricht hier also von der großen Scheidung zwischen allen Menschen. Es wird – für seine jüdischen Zuhörer überraschend – nur zwei Gruppen geben und diese Gruppen sind dann nicht Juden und Heidenvölker, sondern diejenigen, die den Willen Gottes getan haben (46) und der Rest. Jesus scheidet sie, wie der Hirte, der die Schafe und die Ziegenböcke zusammen auf die Weide führt, aber nicht die geringsten Probleme hat, zwischen ihnen zu unterscheiden. Unfehlbar und offensichtlich ist der Unterschied zwischen beiden, auch wenn sie miteinander auf der gleichen Weide gegrast haben.
So wird der königliche Richter Jesus am Ende ohne Probleme zwei Gruppen auseinander sortieren, die jetzt auf dieser Welt vermischt leben: die Gesegneten des Vaters (34) und die Verfluchten (41). Sie haben auf dem gleichen Feld gearbeitet und auf der gleichen Mühle gemahlen und gehören doch in zwei verschiedene Welten (Mt 24,40+41). Schon an dem Vergleich mit dem Hirten dürfte klar sein, dass es nicht darum gehen kann, ganze Völker pauschal der einen oder anderen Gruppe zuzuordnen. Aber das wird auch sprachlich unterstrichen. Das „sie” in Vers 32 steht im Maskulin Plural, obwohl „die Völker” im Griechischen Neutrum Plural sind. „Sie” steht also für alle Versammelten aus allen Völkern. Der Gegensatz (Verse 34+41+46), der aus der Trennung der Versammelten entsteht, stellt einen scharfen Kontrast dazu dar, dass sie eben noch friedlich nebeneinander auf der gleichen Weide standen. Kommt her – geht weg; Gesegnete des Vaters – Verfluchte; ererbt das Reich – ins ewige Feuer; für euch vorbereitet – für den Teufel vorbereitet; ewiges Leben – ewige Strafe.
Die scharfe Trennung hat ihren Ursprung im Verhältnis zum Weltenrichter: Ich war … und ihr habt mir … oder habt mir nicht. Das ist Lob und Vorwurf des königlichen Richters. Jesus macht das Verhältnis aber nicht daran fest, ob einer „Herr, Herr” sagt, sondern auch ob er den Willen des Vaters im Himmel tut (Mt 7,21). Aber auch das ist nicht eine allgemeine Floskel, sondern wird ganz konkret: Ob das Verhältnis zu Jesus Christus das Richtige ist, zeigt sich am Verhältnis zu seinen Nachfolgern, den Christen. Am deutlichsten wird das vielleicht an der Aussage: „Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen”. Kann das bedeuten, dass, wer einen Verbrecher im Gefängnis besucht, das ewige Reich ererbt? Sicher nicht. In diesem Gefängnis sitzen die geringsten Brüder von Jesus. Das sind die, die den Willen seines Vaters tun. Denn die sind seine Brüder, seine Schwester und seine Mutter (Mt 12,49+50). Sie sitzen dort, weil sie wegen ihres Glaubens an Jesus verfolgt wurden und eingesperrt sind. Jeder, der sie besucht, der stellt sich zu ihnen und damit zu Jesus. Es geht hier nicht um die allgemeine Gefängnisseelsorge, sondern darum, ob Menschen zu den Verfolgten stehen, die wegen Christus in den Gefängnissen sitzen. In Matthäus 10 lesen wir, dass Jesus seine Jünger aussendet und sie deswegen mit Verfolgung zu rechnen haben. Sie sind als Nachfolger und Verkündiger darauf angewiesen, dass andere Menschen sie aufnehmen, sie mit Kleidung, Nahrung und allem Nötigen versorgen. Es geht ihnen darin genauso wie Jesus selbst. In diesem Zusammenhang sagt Jesus dann:
„Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. Wer einen Propheten aufnimmt, weil es ein Prophet ist, der wird den Lohn eines Propheten empfangen. Wer einen Gerechten aufnimmt, weil es ein Gerechter ist, der wird den Lohn eines Gerechten empfangen. Und wer einem dieser Geringen auch nur einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist, wahrlich ich sage euch: es wird ihm nicht unbelohnt bleiben” (Mt 10,40-42).
Nicht jeder ist ein Prophet, aber jeder kann Stellung beziehen. Tut er es, weil es ein Nachfolger von Jesus ist, dann steht er auch im Verhältnis zu Jesus, so wie er Jesus verfolgt, wenn er einen seiner Jünger verfolgt (Apg 9,4+5).
Jesus sagt hier also, dass die scharfe Trennung ihren Ursprung in der Stellung zu ihm hat, die am Verhalten den Jüngern gegenüber deutlich wird, und das besonders, wenn diese um ihres Glaubens und Dienstes willen in Schwierigkeiten geraten oder verfolgt werden. Die Gesegneten des Vaters sind ja nicht ahnungslos, was ihren Dienst an den Christen angeht. Sie haben nur nicht wahrgenommen, dass sie Jesus selbst damit gedient haben. Negativ ist klar, dass es für einen Christen unmöglich sein sollte, seinen Bruder hungern oder dursten zu lassen, sich nicht zu ihm zu stellen oder ihn nicht gastfreundlich aufzunehmen. Johannes sagt, dass niemand behaupten soll, er liebe Gott, wenn er nicht seinen Bruder im Glauben liebt (1Joh 4,20+21). Am Ende werden also gewissermaßen alle auch nach ihren Werken gerichtet, nämlich nach den Werken, die als Frucht des Glaubens an Jesus gewachsen sind. Das sind keine eigenständigen guten Taten, auf die wir uns etwas einbilden könnten. Sie können sogar dem Christen, der sie tut, verborgen sein. Aber sie werden im Gericht nicht verborgen bleiben, denn es gehört zum Evangelium, dass Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird (Röm 2,16). „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christus, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse” (2Kor 5,10; vgl. Offb 20,12).
Jesus lehrt hier also keinen Sonderweg zum Himmel, der entweder eine Rettung ganzer Völker oder eine Rettung nur karitativ tätiger Menschen bedeuten könnte. Jesus spricht vom gleichen Gericht, wie an anderen Stellen im Neuen Testament, ein Gericht, in dem man nur aus Gnade durch den Glauben an Jesus Christus freigesprochen werden kann. Matthäus geht wie Jakobus von einem lebendigen Glauben aus, der auch Früchte trägt. Er weist hier auf die scharfe Trennung zwischen Menschen hin, die gemeinsam auf dieser Erde leben und sich nur durch ihr Verhältnis zu Jesus unterscheiden, das allerdings praktische Konsequenzen besonders im Verhältnis zu anderen Christen hat. Jesus kennt die Seinen genau und sieht jede Tat des Glaubens als eine Tat an Ihm an.