ThemenFrage & Antwort

Wann ist Prophetie erfüllt?

Frage: Wann gilt eine Prophetie eigentlich als erfüllt? Nach Jesaja 7,14 sollte der Messias „Immanuel“ heißen, aber der Engel befahl Maria und Josef ihrem Kind den Namen „Jesus“ zu geben. Oder Agabus in Apg 21,11 prophezeite, dass Paulus von den Juden gebunden und an die Römer ausgeliefert werden würde. Aber kam es nicht ganz anders, weil die Juden Paulus töten wollten und die Römer ihn zuerst beschützt haben?

Antwort:

Die Frage ist weitaus schwieriger zu beantworten als es auf den ersten Blick scheint. Auch müsste man jede Antwort an vielen Einzelbeispielen aus der Heiligen Schrift erproben. Darum lade ich alle Leser ein, mir eventuelle Ergänzungen zu diesen Ausführungen zu senden.

A.   Die Propheten des AT und des NT haben nicht nur zukünftige Ereignisse vorausgesagt. Man denke nur an das vielfältige Wirken Elias. Aber auch die anderen Propheten hatten mehr Predigtthemen als zukünftige Ereignisse vorauszusagen. Aber das war Teil ihrer Berufung. Wird nach der Erfüllung einer Prophetie gefragt, denken wir hier an das Schema, dass eine von Gott beauftragte Person Ereignisse in der nahen oder fernen Zukunft ankündigt. Mit Erfüllung der Prophetie ist dann gemeint, dass die angekündigten Ereignisse in Raum und Zeit geschehen. Dieser Gedankengang liegt etwa 5Mo 18,20-22 zugrunde:

„Doch der Prophet, der sich vermessen sollte, in meinem Namen einWort zu reden, das ich ihm nicht befohlen habe zu reden, oder der im Namen anderer Götter reden wird: dieser Prophet muss sterben. Und wenn du in deinem Herzen sagst: „Wie sollen wir das Wort erkennen, das nicht der HERR geredet hat?“, wenn der Prophet im Namen des HERRN redet, und das Wort geschieht nicht und trifft nicht ein, so ist das das Wort, das nicht der HERR geredet hat. In Vermessenheit hat der Prophet es geredet; du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten.“

Ist Jona ein falscher Prophet, weil er in Ninive auf den Tag genau den Untergang der Stadt ankündigte, es dann aber nicht geschah (Jona 3,4.10)? Offenbar gilt er in der Bibel nicht als solcher. Für Unheilsankündigungen scheint hier und auch sonst zu gelten, dass Gott lieber rettet, wenn sich die Menschen bekehren, als dass er das angekündigte Unheil über sie bringt. Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er umkehrt und lebt (Hes 33,9ff).

Dieses einfache Schema allerdings ist schon im Deuteronomium dadurch ergänzt, dass als erfüllte Prophetien Gottes nur solche gelten können, die nicht vom wahren Gott wegführen.

5Mose 13,1-6: „Das ganze Wort, das ich euch gebiete, das sollt ihr bewahren, um es zu tun. Du sollst zu ihm nichts hinzufügen und nichts von ihm wegnehmen. Wenn in deiner Mitte ein Prophet aufsteht oder einer, der Träume hat, und er gibt dir ein Zeichen oder ein Wunder, und das Zeichen oder das Wunder trifft ein, von dem er zu dir geredet hat, indem er sagte: „Lass uns anderen Göttern – die du nicht gekannt hast – nachlaufen und ihnen dienen!“, dann sollst du nicht auf die Worte dieses Propheten hören oder auf den, der die Träume hat. Denn der HERR, euer Gott, prüft euch, um zu erkennen, ob ihr den HERRN, euren Gott, mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele liebt. Dem HERRN, eurem Gott, sollt ihr nachfolgen, und ihn sollt ihr fürchten. Seine Gebote sollt ihr halten und seiner Stimme gehorchen; ihm sollt ihr dienen und ihm anhängen. Und jener Prophet oder der, der die Träume hat, soll getötet werden. Denn er hat Abfall vom HERRN, eurem Gott, gepredigt, der euch aus dem Land Ägypten herausgeführt und dich erlöst hat aus dem Sklavenhaus -, um dich abzubringen von dem Weg, auf dem zu gehen der HERR, dein Gott, dir geboten hat. Und du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“.

Das bedeutet also, dass Prophetien beurteilt werden müssen, so wie es auch im Neuen Testament von den Propheten in Korinth gilt. (1Kor 14,29)

B.   Prophetien und ihre Erfüllung spielen deswegen in der Bibel eine wichtige Rolle, weil sie eine Bestätigung göttlichen Wirkens sind. Das liegt daran, dass der wahre Gott der einzige ist, der die Zukunft kennt. Verkündigt ein falscher Prophet einmal etwas, was eintrifft, so ist es eine Prüfung Gottes. Es ist also keineswegs gleichgültig, ob sich eine göttliche Prophetie erfüllt oder nicht. Sie bezeugt, dass der wahre Gott gesprochen hat.

Jesaja 41,21-23: „ Bringt eure Rechtssache vor! spricht der HERR. Bringt eure Beweise herbei! spricht der König Jakobs. Sie sollen sie herbeibringen und uns verkünden, was sich ereignen wird: das Frühere, was war es? Verkündet es, damit wir es uns zu Herzen nehmen! Oder lasst uns das Künftige hören, damit wir seinen Ausgang erkennen! Verkündet das später Kommende, damit wir erkennen, dass ihr Götter seid!“

C.   Prophetien sind in der Bibel unterschiedlich klar. Es handelt sich nicht selten um Bilder oder Träume, die auch der Prophet selbst nur versteht, wenn Gott es ihm erklärt. Und einiges sollte sogar unklar bleiben (1Petr 1,10-12). Von vielen prophetischen Aussagen kann man nicht im Vorhinein sagen, wie sie sich erfüllen werden, sondern nur im Nachhinein, wie sie sich erfüllt haben.

4Mo 12,6-8 „Und er sprach: Hört doch meine Worte! Wenn ein Prophet des HERRN unter euch ist, dem will ich mich in einem Gesicht zu erkennen geben, im Traum will ich mit ihm reden. So steht es nicht mit meinem Knecht Mose. Er ist treu in meinem ganzen Haus; mit ihm rede ich von Mund zu Mund, im Sehen und nicht in Rätselworten, und die Gestalt des HERRN schaut er.“

In dieser Hinsicht ist also ein klares Wort Gottes immer deutlicher als eine noch unerfüllte Prophetie. Gehorchen soll man deswegen auch dem, was Gott klar fordert. Man muss auch zwischen der Prophetie selbst und den eventuellen Konsequenzen daraus unterscheiden. Das zeigt also, dass man bei einer Prophetie nicht nur beurteilen muss, ob sie überhaupt von Gott kommen kann, sondern auch, welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollen.

D.   Jesus Christus ist die Erfüllung des ganzen Alten Testamentes. Sein Kommen gibt vielen Ankündigungen, die teilweise gar nicht als solche zu erkennen waren, ihren Sinn. Die Pfingstpredigt des Petrus ist dafür ein Beispiel, weil sie von der Grundaussage getragen ist, dass der angekündigte Retter mit Jesus gekommen ist. Petrus beginnt mit Joel 3,1-5 und zeigt, dass die Ausgießung des Heiligen Geistes auf jeden Glaubenden erfüllt ist. Er hat kein Problem damit, dass der zweite Teil, die katastrophischen Erscheinungen an Sonne und Mond noch nicht eingetreten sind. Das zeigt, dass in einer Prophetie unterschiedliche Ereignisse zu verschiedenen Zeiten angesprochen werden können. Was David in Psalm 16 scheinbar von sich gesagt hat, dass er nicht im Tod bleibt, hat Jesus erfüllt. Die Ankündigung in Psalm 110 zur Rechten Gottes zu sitzen, ist durch Jesus erfüllt.

In ähnlicher Weise argumentiert Paulus in Röm 10,5-13 und bezieht Stellen auf Christus, die gar nicht von ihm zu reden scheinen. Wenn es also um Jesus Christus geht, so gilt, dass die ganze Heilige Schrift auf ihn weist und „so viele Verheißungen Gottes es gibt, in ihm ist das Ja, deshalb auch durch ihn das Amen, Gott zur Ehre durch uns“ (2Kor 1,20). Die Deutung einer alttestamentlichen Aussage oder Prophetie auf Christus hin, ist also keine falsche oder großzügige Auslegung, sondern durch die Überzeugung gedeckt, dass die ganze Schrift von Christus spricht. Nur vor diesem Hintergrund etwa kann Matthäus verstanden werden, der von der Erfüllung verschiedener Prophetien auf Jesus hin schreibt (1,22; 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; 26,56; 27,9). Das heißt, dass das Erscheinen von Jesus Christus die klare Wirklichkeit ist, auf die die meisten Prophetien mehr oder weniger klar hindeuteten.

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die angefragten Stellen, so kann man in Blick auf den verheißenen Namen Immanuel für Jesus sagen, dass Matthäus darin kein Problem sah. Mt 1,23 wiederholt er die Verheißung aus Jes 7,14 um dann zwei Verse später zu sagen, dass Josef ihm als Rufnamen nicht diesen, sondern den Namen Jesus gab (Jeschua – Gott rettet; Mt 1,21: „… du sollst ihm den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden“). Nun schreibt Matthäus „sie werden ihn Immanuel nennen” (3. Plural). Im Septuagintatext heißt es im Blick auf Ahas: „Du wirst ihn Immanuel nennen”. Im hebräischen Text Jes 7,14 steht, dass die Jungfrau, die den Retter geboren hat, ihn „Immanuel“ nennen wird. Zur Zeit der Geburt von Jesus scheinen die Väter das letzte Wort in Sachen Namensgebung gehabt zu haben (s.a. Lk 1,62.63). Auch deswegen bezieht sich der zweite Teil der Prophetie wohl auf die Bekehrung der Maria. Wie wir auch sonst aus der Bibel sehen, ist die Bedeutung des Namens entscheidend. Matthäus sagt:

„Das heißt übersetzt: Gott mit uns“. Diese Bezeichnung hat Jesus voll und ganz ausgefüllt. Matthäus beendet mit dieser Zusage sein Evangelium (Mt 28,20).

Maria hat das zwar in ihrem Lobgesang vor der Geburt von Jesus angedeutet (Lk 1,54), aber vollständig erst erkannt, als sie selber zum Glauben an Jesus fand (Apg 1,14). Der Name Immanuel für Jesus ist auch in unserer Zeit wieder wichtig geworden, weil die Vergewisserung, dass Gott mit uns ist, in vielen Liedern, Predigten und Zeugnissen Thema ist. Man kann also sagen, dass die Prophetie ganz erfüllt wurde, allerdings anders als es auf den ersten Blick hätte sein müssen.

In Apg 21,11 ist die Sache ähnlich. Als Agabus das Kunststück vollbracht hat, sich selbst mit dem Gürtel von Paulus Hände und Füße zu fesseln, da sagt er:

„Das sagt der Heilige Geist: Dem Mann, dem dieser Gürtel gehört, werden auf die gleiche Art und Weise die Juden binden in Jerusalem und an die Nichtjuden ausliefern“.

Paulus wurde dann auch zuerst von Juden festgenommen (21,30; 23,27). Da steht nämlich für „festnehmen“ das gleiche Wort, wie 21,33 als er auf Befehl des römischen Oberst Klaudius Lysias festgenommen und mit zwei Ketten, also wohl auch an Händen und Füßen, gefesselt wird. Das blieb er auch anscheinend, solange er in der Burg war (22,30). Die Unklarheit über die Erfüllung der Prophetie entsteht also zuerst dadurch, dass die Festnahme von Paulus durch die Juden in den meisten Übersetzungen untergeht. Es gab aber eine Tempelpolizei und man sollte sich die Sache nicht so vorstellen, als ob eine Volksmenge im Tempel einen Tumult gemacht hätte. Das vielmehr sollte durch das Schließen der Tore verhindert werden. Vielleicht hatten die Tempelwächter ihn sogar bereits mit Gürteln oder Stricken gefesselt, die dann durch die Ketten der Römer ersetzt wurde. Aber selbst wenn die Festnahme anders vonstatten ging, wäre dieser Teil der Prophetie erfüllt, denn Festnehmen bedeutet immer, dass man gehindert wird mit seinen Händen und Füßen zu tun, was man will.

Zwar hat Oberst Lysias Paulus mit seiner Festnahme vor den aufgebrachten Juden gerettet, die ihn töten wollten. Aber dass es sich dabei nicht um eine reine Rettungsaktion handelte, zeigt sich im weiteren Verlauf. Für ganz aus der Luft gegriffen hält der Oberst die Anschuldigungen der Juden nämlich nicht. Die aber sind der einzige Grund für ihn, Paulus als römischen Bürger überhaupt festzuhalten, dann dem Hohen Rat vorzustellen und schließlich zur weiteren Verhandlung an Felix nach Cäsarea zu überstellen. Und die Anklagen der Juden bleiben auch der einzige Grund für die weitere Haft des Paulus. Hätten sie sie fallen gelassen, dann hätte Paulus sofort frei werden können. Die Juden hätten Paulus zwar gern selbst den Prozess gemacht, aber im Ergebnis hoffen sie doch darauf, dass die Römer die Arbeit für sie erledigten.

Der genaue Ablauf war also im Detail anders, als man es auf den ersten Blick aufgrund der Prophetie des Agabus erwartet hätte, in der Sache ist aber alles genauso eingetreten. Lukas berichtet mit Absicht diese Prophetie und keine von den anderen mit ähnlichem Inhalt, die Paulus schon vorher gehört hatte (20,22-23). Interessant ist auch die Frage nach den Konsequenzen aus einer Prophetie. Paulus zog ja – anders als alle Freunde es wünschten – aus der Ankündigung seiner Festnahme nicht den Schluss, die Reise nach Jerusalem abzusagen. Im Gegenteil wirft das bei ihm die Frage auf, warum er wegen des Evangeliums der Gnade (20,24) festgenommen werden soll, während doch viele Christen in Jerusalem unbehelligt leben. Für umso wichtiger hält er es, die Gemeinde in Jerusalem aufzusuchen und zu klären, ob sie das gleiche Evangelium predigt. Und dann ist die Frage nach der Gesetzeserfüllung tatsächlich eine der wichtigsten, die geklärt wird (21,20-22). Paulus zieht also aus guten geistlichen Gründen einen ganz anderen Schluss aus der Prophetie, als man es nach menschlichem Ermessen erwarten würde.

Prophetien der Bibel sind also nicht wie Wahrsagerei, bei der die Hälfte der Vorhersagen „eintreffen“ und die andere Hälfte nicht. Sie sind auch nicht wie Horoskope, bei denen sich jeder aus wolkigen Formulierungen seine Erfüllung konstruieren kann. Sie sind mal bildhafte, mal konkrete Vorhersagen von Ereignissen. Sie erfüllen sich genau. Allerdings kann das durchaus anders aussehen als auf den ersten Blick erwartet. Jesus erfüllte alle Prophetien über den Messias, aber die meisten Kenner dieser Prophetien erwarteten ihre Erfüllung doch ganz anders als Gott es dann getan hat. Das Problem lag aber in den menschlichen Vorstellungen von der Erfüllung und nicht in ungenauen Vorhersagen. Darum gilt auch, dass jede Prophetie beurteilt werden muss anhand des Wortes Gottes. Und die Konsequenzen, die man aus ihnen ziehen soll, müssen wieder anhand des Wortes Gottes beurteilt werden.