Günter Rohrmoser: Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart. Hrsg. von Michael Grimminger, München 2000, Olzog Verlag, ISBN 3-7892-8042-9, geb., 422 S.; 17,5 x 24,5 cm; EUR 39,90.
Der Sozialphilosoph Prof. em. Dr. Günter Rohrmoser gehört zu den hervorragendsten christlichen Denkern der Gegenwart. Publikationen von ihm werden auch in der säkularen Welt beachtet.
Das vorliegende Buch basiert auf Vorlesungen, die in freier Rede ohne Manuskriptvorlage gehalten und von Dr. Michael Grimminger redigiert wurden. Es ist lebendig im Stil und gut verständlich. Die Argumentationsschritte sind klar herausgearbeitet. Mit ungewöhnlichem Scharfblick und seltener Tiefgründigkeit analysiert Rohrmoser unsere Zeit im Spiegel der Philosophie Nietzsches und vermag auf packende Weise viele entscheidend wichtige und z.T. überraschende und erschütternde Einsichten in das Bewusstsein der Leserschaft zu pflanzen.
Der Autor untersucht aus dem Schrifttum Nietzsches neben anderem besonders die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, „Die Geburt der Tragödie“, „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, „Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile“, „Die fröhliche Wissenschaft“, „Umwertung aller Werte“, und „Zur Genealogie der Moral“. Aus der Perspektive dieser Schriften beleuchtet Rohrmoser in 42 Kapiteln im Wesentlichen Nietzsches Kritik der bürgerlichen Kultur und des Christentums, dessen Niedergang, die Heraufkunft des Nihilismus, die Kulturrevolutionen des 20. Jahrhunderts einschließlich der 68er Revolution, den Untergang der europäischen Moral und die Auflösung der Gesellschaft, die geschichtliche Logik des Schreckens, die Sinnlosigkeit des modernen Daseins, Metaphysik und Wissenschaft als Gestalten des Nihilismus, das Ende der wissenschaftlichen Aufklärung -Wiederkehr des Mythos, Dionysos statt Christus und Christliche Existenz. – Ein Verzeichnis ausgewählter Literatur und ein Personenregister beschließen ohne ein Sachregister das Werk.
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Rezension alle Einzelthemen in gleicher Gewichtung darzustellen. Darum seien stellvertretend einige der Aspekte mit zentraler Bedeutung skizziert.
War Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) größenwahnsinnig, als er meinte, die Geschichte würde in zwei Teile zerbrechen, nämlich in die Zeit vor ihm und in die Zeit nach ihm? Auf jeden Fall markieren Leben und Denken des Philosophen eine in ihrer Zukunftsbedeutung herausragende Station der Geistes- und Weltgeschichte. Nach Rohrmosers Urteil „vollzieht sich in der Abwendung vom Christentum in … Nietzsche die eigentliche Wende in der europäischen Geschichte und im europäischen Denken.“ (S. 259.) Nietzsche war die personifizierte Vorwegnahme des 20. im 19. Jahrhundert – gerade auch in seiner geistigen Umnachtung, in der er verstarb.
Nietzsche hatte sich mit Literatur des radikalen Bibelkritikers David Friedrich Strauss beschäftigt, der die grundlegenden Glaubensinhalte des Christentums mittels der historisch-kritischen Methode als Mythen und Phantasieprodukte der Gemeinde interpretierte. Die Auferstehung bezeichnete er als weltgeschichtlichen Humbug. Rohrmoser: „Er hat damit das ganze Christentum – philosophisch gesehen – ausgelöscht.“ (S. 35) In Nietzsches Augen wurde der christliche Glaube durch die Theologie vernichtet. – Nun ist aber nach Rohrmoser die historisch-kritische Methode keineswegs voraussetzungslos. Sie wird geleitet von einem Vor-Urteil darüber, was Geschichte ist. „Vielleicht liegt hier der größte Irrtum Nietzsches in seinem Verständnis über das Christentum, wenn er meinte, dass das Christentum einer historisch-kritischen Erforschung nicht standhalten würde.“ (S. 43) Die Tragik im Denkweg Nietzsches nahm ihren Lauf. Er verkündete schließlich den „Tod Gottes“.
Eine weitere wichtige Voraussetzung zum Verständnis Nietzsches sieht der Autor darin begründet, dass D. F. Strauss neben der Bibelkritik den Darwinismus als angemessene Form der Wirklichkeitserkenntnis vertrat: Im Kampf aller gegen alle gehen die Schwachen zu Recht unter. Zog Strauss nun entsprechende ethische Konsequenzen? Er postulierte eine Ethik der Selbstbestimmung, die mit dem Gesamtinteresse der Menschheit übereinstimmt. Deswegen hielt Nietzsche Strauss, der die bürgerliche Kultur repräsentierte, Inkonsequenz und Heuchelei vor. Welterkenntnis und Ethik widersprächen sich. Strauss „hätte – zugespitzt formuliert – genau die Konsequenz ziehen müssen, die Adolf Hitler gezogen hat.“ (S. 40) Das Bürgertum hatte den Inhalt christlichen Glaubens verworfen, wollte jedoch eine bürgerlich-christliche Moral bewahren. Nietzsche – bewegt von einem irregeleiteten Wahrheitsverständnis – beabsichtigte diese Schizophrenie auf seine Weise zu überwinden: indem er die christliche Moral bekämpfte, ja, das Christentum zu vernichten trachtete.
Andererseits bekam Nietzsche als Erster Einsicht in Zusammenhänge, die heute für unbedeutend erachtet werden. Er erkannte: Der Untergang des Christentums, der Metaphysik und der Ethik ist nicht einfach eine theoretische Angelegenheit; er hat vielmehr weltgeschichtliche Bedeutung! Barbarei und Zerstörung sind die Folge. Nietzsche analysierte die damalige bürgerliche Gesellschaft, die in scheinbarer Blüte stand. Er blickte tiefer, nahm ihre Krise wahr, die er letztlich auf den Niedergang des Christentums zurückführte. Die Wurzeln der im 20. Jahrhundert Verderben bringenden Ideologien liegen schon im 19. Jahrhundert! Er erkannte die nihilisierenden Folgen der modernen Wissenschaft. Der daraus resultierende Glaubenszerfall ließ als Religionsersatz den Nationalismus hervorgehen, und die darwinistische Naturinterpretation wurde das Fundament von Hitlers Politik. Nietzsche prognostizierte Vernichtung, die sich dann tatsächlich in den Weltkriegen, im Nationalsozialismus und im Kommunismus verwirklichte. Nietzsche wörtlich: „Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige … Wissenschaft mit einbegriffen.“ (zitiert v. Rohrmoser auf S. 61) Marx (der übrigens die Lehre Darwins mit Freuden begrüßte) zerstörte mit Ingrimm Metaphysik, Moral und Glaube. Während die Anhänger des Sozialismus noch überzeugt waren, er werde in die Freiheit und in das Absterben des Staates führen, sah Nietzsche im Sozialismus schon das Reaktionäre, das Despotische, die angestrebte Fülle der Staatsgewalt, die Irreführung der Massen, die Schreckensherrschaft und die Vernichtung des Individuums (vgl. S. 241). Nietzsche blickte tiefer als Marx und hat auf furchtbare Weise Recht behalten.
Rohrmoser prognostiziert Unheil für das 21. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert wurde der giftige Trank gebraut, den das 20. Jahrhundert getrunken hatte. „Und wir nähren uns … immer noch aus diesem Braukessel.“ (S. 64) Nietzsches „Prognose, dass die Zukunft im Zeichen … des Untergangs … des Christentums steht, erfüllt sich täglich vor unseren Augen. Im Gefolge der Kulturrevolution von 1968 ist inzwischen eine ganze Generation groß geworden, die nicht einmal mit dem elementarsten Wissen über das Christentum versehen ist.“ (S. 415.) In Deutschland gibt es eine immer radikaler werdende Tendenz, den christlichen Glauben aus der öffentlichen Kultur, z.B. aus den Bereichen der Politik, der Wissenschaft und der Kunst, zu beseitigen. Gleichzeitig wird der „Baalskult“ in Gestalt einer „ins Pathologische kippende Feier der menschlichen Sexualität“ (S. 63) errichtet. Der moderne Mensch akzeptiert sich so, wie er ist und lebt seine Triebe und Affekte aus. Rohrmoser dazu: „Wenn dieser Zustand einmal eingetreten ist, dann ist alles verloren. Nietzsche hat sehr deutlich die darin liegende Dekadenz empfunden …“ (S. 398.) Für ihn war der durch die Auflösung des Christentums verursachte Zerfall der Sittlichkeit das eigentliche Symptom der Krise. Aus der Auflösung des Christentums folgt am Ende die Selbstauflösung der Gesellschaft. Nietzsche sieht sie kommen; er nennt sie „atomistische Revolution“ (S. 65). Die heutige Postmodeme – die Konsequenz der Logik der Moderne – ist Ausdruck dieser Selbstauflösung. Ehe und Familie zerfallen wie auch Tugend und Verlässlichkeit. Wahrheit ist der Postmodeme ohnehin verloren gegangen. „Da die Wahrheitsfrage nicht mehr gestellt wird, kann sich auch der Wahn anstelle der Wahrheit durchsetzen.“ (S.407.)
Rohrmoser ist skeptisch, ob das Ruder auf der Fahrt in Richtung Abgrund noch einmal herumgerissen werden kann. Er plädiert dennoch für eine philosophische Verteidigung des christlichen Glaubens und stellt fest: „Die Annahme des Kreuzes ist zur ehernen Bedingung der Erhaltung … unserer Gesellschaft im Ganzen geworden. Aber ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ertönt unter uns der Ruf nach der Abschaffung des Kreuzes.“ (S. 42) Ferner tritt Rohrmoser für eine Neubeachtung der in der Christenheit übersehenen oder verdrängten Lehre Martin Luthers von der Verborgenheit und dem Zorn Gottes ein. Dieser Luther ist in der evangelischen Kirche fast nicht mehr existent. Die Schwärmerei des Redens von einem nur gütigen Gott scheint zu dominieren. Weil die Schrecklichkeit Gottes ausgeblendet wird, befindet sich das Christentum als Kulturmacht in Agonie. Nietzsche hatte aus der Grausamkeit der Wirklichkeit den Atheismus begründet und den Christen vorgeworfen, sie verdrängten im Glauben an einen liebenden und gütigen Gott eben diese Wirklichkeit. Hierin hatte der Kampf Nietzsches gegen den christlichen Glauben seinen Grund. Luther dagegen hatte die Furchtbarkeit der Wirklichkeit in seinen Gottesglauben integriert. Rohrmoser: „Wenn man … eine theologische Antwort auf Nietzsche finden will, dann kann man sie nur mit Luther finden …, weil Luther die Wirklichkeitserfahrung mit Nietzsche teilt.“ (S. 261)
Wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten. Der Autor meint auf S. 73, Lessing sei um die Rettung des Christentums bemüht gewesen (und will an anderer Stelle den Nachweis bringen). Es gibt aber schwer wiegende Gründe für die Sicht, dass Lessing eine verhängnisvolle Rolle spielte: Er untergrub das Vertrauen auf die Bibel, die er im Sinne seiner Aufklärungsphilosophie deutete. – Auch an einigen anderen Stellen hätte m.E. aus bibeltreuer Sicht anders oder wenigstens eindeutiger formuliert werden sollen.
Abschließend: Die Welt als gefallene Schöpfung fordert den Menschen heraus, Gott zu suchen. Doch der Mensch – in seinem tiefsten Wesen ein Feind Gottes – will dieser Herausforderung entgehen, indem er die Weltproblematik durch eigene Philosophien und Ideologien zu erklären bzw. zu lösen sucht. Hier verhilft das Werk Rohrmosers zu einem tieferen Einblick in die Wege und Abgründe gottfernen Denkens, in dem der Mensch scheitert und das Unheil vermehrt. Dagegen eröffnet die Annahme der Botschaft des Evangeliums nicht nur das ewige Heil, sondern fördert als kulturstiftende Kraft Frieden, Wohl und Gerechtigkeit in dieser Welt. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge ermöglicht ein besseres Verständnis des weltanschaulichen Hintergrunds unserer zeitgenössischen Dialogpartner, um daran anknüpfend geistlich Wesentliches zur Sprache bringen zu können.