Seit einigen Tagen hat das Gespräch über diese in der Forschung umstrittene Frage neue Nahrung. Anlass sind zwei Silberplättchen, nur wenige Quadratzentimeter groß und mit millimeterlangen Buchstaben beschrieben. Man kann es schon als Sensation bezeichnen: Es sind, wie man jetzt weiß, die ältesten Bibeltexte, die je gefunden wurden. Altes und Neues Testament entstanden über mehrere Jahrhunderte hinweg. Viele Verfasser beteiligten sich daran.
Die Geschichte des neuen Fundes begann 1979. Der israelische Archäologe Gabriel Barkai grub in Jerusalem auf dem Gelände der schottisch-reformierten Sankt-Andreas-Kirche eine Grabanlage aus der Zeit vor dem babylonischen Exil (587 v. Chr.) aus. Die Kirche liegt am Südhang des Hinnom-Tals, das die Altstadt im Westen und Süden begrenzt. In diesem Tal wurden in alttestamentlicher Zeit unter den abtrünnigen Königen Ahas und Manasse Menschenopfer dargebracht (2Kö 16,3; 21,6). Deshalb und wegen der vom Propheten Jeremia gegen diesen Ort ausgesprochenen Gerichtsdrohung (Jer 7,32; 19,6) wurde das Tal im Judentum zwischen Altem und Neuem Testament zum Bild für den endzeitlichen Strafort. Auch Jesus hat das aramäische Wort Ge-Hinnam gebraucht, wenn er von der Hölle redete (Mt 5,22 u.a.).
Aaronitischer Segen als Grabbeigabe
Im Unterschied zu vielen anderen in Jerusalem aufgefundenen Grabanlagen enthielt die bei der Andreas-Kirche auch Grabbeigaben. Darunter befanden sich die zwei zusammengerollten Silberplättchen. Erst nach drei Jahren konnten sie unzerstört geöffnet werden. Nur mit Hilfe von ausgeklügelten Verfahren gelang es dann, den größten Teil der erhaltenen Inschriften zu lesen. Beide Plättchen enthalten den sogenannten aaronitischen Segen, der bis heute zur Liturgie der meisten christlichen Kirchen gehört:
„Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“ (5Mo 6,24-26).
Der Text auf dem einen der Plättchen stimmt fast völlig mit dem Text überein, den Theologiestudenten heute in ihrer hebräischen Bibel abgedruckt finden. Die Inschrift auf dem anderen Plättchen weicht geringfügig ab.
Halsschmuck: Göttlicher Schutz
Die Löcher in beiden Plättchen zeigen, dass ihr Besitzer sie an einem Band um den Hals trug, um sich des göttlichen Schutzes zu versichern. Barkai glaubt, dass wir es mit den Vorläufern der jüdischen Gebetsriemen zu tun haben.
Noch heute binden sich fromme Juden in wörtlicher Erfüllung alttestamentlicher Worte (z.B. 2Mo 13,9; 4Mo 6,8) beim Gebet Lederriemen um Kopf und Arme, an denen kleine Kapseln mit Schriftzitaten befestigt sind. Jesus warnt davor, mit Hilfe besonders breiter Gebetsriemen sich seiner Frömmigkeit zu brüsten (Mt 23,5).
400 Jahre älter als Qumran-Schriften
Der Priestersegen wird von den Forschern, welche die fünf Mose-Bücher aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt sehen, der Quelle P (= Priesterschrift) zugeschrieben. Meist vermuten sie die Entstehung der Priesterschrift in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volkes. 587 oder 586 v.Chr. hatte der babylonische Großkönig Nebukadnezar Jerusalem erobert und die Oberschicht der Bevölkerung ins Exil geführt. Nun stammen aber die beiden Silberplättchen mit dem Priestersegen aus dem 7. Jhd. v. Chr. Das geht aus dem Grabungsbefund und dem verwendeten Schrifttyp einwandfrei hervor. Die Inschriften sind damit noch rund 400 Jahre früher zu datieren als die ältesten Schriftfunde aus den Höhlen von Qumran, der Essener-Siedlung am Nordwestufer des Toten Meeres.
Bibelforscher: Für Korrekturen offen sein
Manche werden damit die gängige Theorie widerlegt sehen, dass die Mosebücher aus verschiedenen Quellen zusammengeschrieben sind. Aber die Vertreter der Quellenscheidung werden sich nicht so rasch geschlagen geben.
Sie können darauf hinweisen, dass man für den Priestersegen schon immer mit einer Entstehung vor dem Exil rechnete. Außerdem gibt es eine Minderheit, vor allem israelischer Forscher, welche die ganze vermutete Quelle P in der vorexilischen Zeit ansetzen. Immerhin sollte die neueste Entdeckung das Bewusstsein dafür wachhalten, dass auch scharfsinnige literarische Theorien für Korrekturen offen bleiben müssen.