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Vom Wundern über Wunder

Die Skepsis gegenüber den Wundern, die in der Bibel berichtet werden, hat eine Vorgeschichte. Sie ist jedoch heute weitgehend von einer rationalistisch geprägten Weltsicht bestimmt, die Gottes Eingreifen als Glaubensaussage von dem tatsächlichen Geschehen abspalten will. Besonders über die Frage, ob Gott mit Wundern gegen die Natur handelt, die er selbst geschaffen hat, ist auch im christlichen Kontext immer wieder diskutiert worden. Eine Infragestellung der Tatsächlichkeit von Wundern kann angesichts des biblichen Zeugnisses, aber auch der theologischen Konsequenzen nicht bestehen.

Als ich erfuhr, dass ich auf der Bibelbund-Konferenz über Wunder sprechen soll, dachte ich zunächst an die heute so verbreitete Wundersucht. Einige Christen wollen jeden Tag ein Wunder erleben. Es gibt heutzutage sogar „Bibelschulen“, an denen man lernen kann, in einer Welt voller Wunder zu leben. Nachdem ich mir die Aufgabenstellung genauer angesehen habe, wurde mir klar, dass es nicht um die Wundersucht, sondern um die Wunderscheu geht. Während die einen in einer Welt alltäglicher Wunder leben, wird insbesondere der akademische Diskurs nach wie vor von einer Wunderskepsis geprägt.

1 Einleitung

Diese Skepsis begegnet uns nicht nur im Blick auf Gebetserhörungen oder Krankenheilungen, sondern auch – und da wird es besonders ernst – im Blick auf zentrale biblische Wunder. Die Wunderscheu schließt nach wie vor heilsgeschichtlich so bedeutungsvolle Geschehnisse wie Jungfrauengeburt oder die Auferstehung ein.

„Wenn man auf bestimmten Dogmen wie der jungfräulichen Empfängnis Jesu beharrt als wortgemäßer Glaube, dass ich das wörtlich so nehmen müsste, dann zeugt das ja von einem völlig unhistorischen Bibel- und Dogmen­verständnis“, behauptete kürzlich Bischof Markus Dröge.1

Der ehemalige Bischof der Nordkirche, Gerhard Ulrich, erklärte im Jahr 2016 der Evangelischen Zeitung:

„Jesus ist tot. Sein Leib verging wie jeder Menschenleib. Aber das, was ihm göttlich war, seine Sache und Haltung, seine Leidenschaft und sein Einsatz fürs wahre Leben, das lebt. Immer neu wird es lebendig in allen, die ihm nachfolgen.“2

Aber machen wir uns nichts vor. Der Vorwurf eines unhistorischen Bibelverständnisses ist längst auch im freikirchlichen Raum angekommen.

Im Dezember 2016 plädierte der FeG-Pastor Sebastian Rink dafür, den Glauben an eine leibliche Jungfrauengeburt aufzugeben. In der Zeitschrift Christsein heute erklärte der Pastor:

„So unbestreitbar die ‚Jungfrauen­geburt‘ auch heute als Glaubensaussage sinnvoll und bedeutsam ist, so ist es keine Überraschung, dass sie im 21. Jahrhundert als eine biologische Aussage unvernünftig und kaum mehr haltbar geworden ist. Zumindest für alle, die im fortpflanzungstechnischen Sinne ‚aufgeklärt‘ wurden.“3

In Zitaten wie diesen begegnet uns eine Aufspaltung von Glauben und Wissen, wie sie uns aus der Jesusforschung bekannt ist. Der Christus des Glaubens ist göttlicher Erlöser, der historische Jesus ist ein einfacher Mensch. Warum diese Aufspaltung? Die Antwort ist simpel. Der aufgeklärte Mensch kann nicht mehr glauben, dass der historische Jesus und Christus zusammengehören. Er kann nicht mehr glauben, dass Maria durch den Heiligen Geist schwanger geworden ist. „Wir wissen heute, dass das nicht sein kann.“

Das Thema des Vortrags ist also die Wunderscheu. Ein großes Thema, dem wir uns vorsichtig annähern. Zunächst werden wir danach fragen, was ein Wunder ist. Ich werde eine weitgefasste Definition vorschlagen, die – so hoffe ich – für unsere Absichten präzise genug sein dürfte. In einem zweiten Teil werde ich die Geschichte der neuzeitlichen Wunderkritik fragmentarisch nachzeichnen. Schließlich werde ich in einem dritten Teil für die christliche Existenz jenseits von Wunderscheu und Wundersucht plädieren.4

2 Was ist ein Wunder?

Beginnen wir also mit der Frage: Was ist ein Wunder überhaupt?

Das Wunderverständnis hat sich in der Theologiegeschichte – bedingt durch unterschiedliche Sichtweisen auf die Natur und Geschichte – immer wieder gewandelt. Die schon im Neuen Testament beginnende Auseinandersetzung mit Wundern5 ist in der Alten Kirche fortgeführt worden und dauert bis in die Gegenwart an.

Eine erste profilierte Wunder­definition finden wir bei Aurelius Augustinus (354–430). Der nordafrikanische Kirchenvater ging davon aus, dass Wunder über die Natur hinausgehen. Wunder sind insofern nicht widernatürlich, sondern öffnen uns den Blick für etwas, was über die uns bekannte Natur hinausweist.

„Ihr Wesen besteht in dem unerwarteten Eintreten eines außergewöhnlichen Ereignisses, von dem eine besondere psychologische Wirkung ausgeht. Sie erweisen sich als sichtbares Zeichen für das unsichtbare, gnadenvolle Handeln Gottes.“6

Bei einem Wunder kann Gott genauso innerhalb der schöpfungs­mäßigen Gesetze handeln wie auch über die Naturgesetze hinaus eingreifen.

Die Welt ist für Augustinus nicht ein von Gott in Bewegung gesetztes, sich selbst mit seinen Gesetzmäßigkeiten überlassenes geschlossenes System. Die Schöpfung wird seiner Auffassung nach auch nicht jeweils durch Gottes Akte neu geschaffen. Er erkennt im Weltgeschehen sowohl natürliche Abläufe als zugleich direktes Eingreifen des Schöpfers. Gott ist nicht durch die von ihm geschaffene natürliche Ordnung begrenzt. Er kann jederzeit übernatürliche Werke schaffen. Wunder richten sich nicht gegen die Ordnung, die Gott geschaffen hat. Sie zeigen, dass die Wirklichkeit größer ist als das, was wir natürlichweise wahrnehmen. Wunder richten sich gegen den uns vertrauten Ablauf. Kurz: Gott handelt im Rahmen von in der Schöpfung verankerten Gesetzmäßigkeiten und kann darüber hinaus jederzeit direkt eingreifen.

Der größte scholastische Theologe, Thomas von Aquin (1225–1274), knüpft an das Wunderverständnis von Augustinus an und transformierte es zugleich. Er unterscheidet ebenfalls zwischen Taten Gottes, die im Rahmen einer natürlichen Ordnung geschehen, und solchen Ereignissen, die neben der Naturordnung ablaufen. Das psychologische Moment, das bei Augustinus eine herausgehobene Rolle spielt, rückt bei Aquin allerdings in den Hintergrund. Thomas’ Denken ist stark von Ursache und Wirkung geprägt. Das hängt mit der Begeisterung für den griechischen Philosophen Aristoteles zusammen, dessen Schriften über islamische Gelehrte im Mittelalter Westeuropa erreichten.

Für Aquin sind Wunder nur da, wo eine Abweichung von der Naturordnung eindeutig erfüllt ist. „Alles Gewicht liegt auf der sich im Wunder manifestierenden Kausalität.“7 Nicht die existenzielle Erfahrung, sondern die außernatürliche Verursachung durch Gott ist für ihn das entscheidende Abgrenzungskriterium. Das Wunder ist für ihn ein wirksames, besonderes Handeln Gottes, das den Glauben der Kirche stärkt.

Eine herausragende Bedeu­tung in der Wunder­diskussion kommt dem Schotten David Hume (1711–1776) zu. Wir dürfen ruhig sagen, dass er zu den bedeutendsten Pionieren der neuzeitlichen Wunderkritik gehört und die Theologie­geschichte nachhaltig beeinflusst hat. Deshalb erwähne ich ihn schon hier, und nicht erst bei der Wunderkritik.

Seine berühmte Unter­su­chung über den menschlichen Verstand enthält im X. Abschnitt eine Abhandlung, die mit „Über Wunder“ überschrieben ist.8 Er grenzt sich von den Wunderverständnissen Augustins oder Aquins ab. Für Hume ist ein Wunder eine Verletzung der Naturgesetze. Er schreibt:

„Ein Wunder ist eine Verlet­zung der Naturgesetze, und da eine feststehende und unveränderliche Erfahrung diese Gesetze gegeben hat, so ist der Beweis gegen ein Wunder aus der Natur der Sache selbst so vollgültig, wie sich eine Begründung durch Erfahrung nur irgend denken läßt.“ (a.a.O. 155)

Da für Hume die gleichförmige Erfahrung der Welt menschliche Erkenntnis erst möglich macht, ergibt sich für ihn, dass es keine Wunder geben kann. Das einzige Wunder, das Hume gelten lässt, ist der Glaube selbst.

Humes Wunderdefinition ist mit der biblischen nicht in Einklang zu bringen. Zwar stimmen wir zu, dass biblische Wunder die natürliche Ordnung der Dinge übertreffen. Es ist allerdings nicht so, dass jedes biblische Wunder die Naturgesetzlichkeit durchbricht oder ihr gar entgegenläuft. Bei vielen biblischen Wundern gebraucht Gott die natürliche Ordnung, um seine Macht und Größe zu unterstreichen.

Bei der Heuschrecken­plage in Ägypten lenkte Gott die Naturkräfte, beim Sprechen von Bileams Esel handelte er jenseits der natürlichen Ordnung.

Als der ägyptische Pharao dem Volk Israel den Auszug verweigert, sandte Gott 10 wundersame Plagen. Mit der achten Plage kamen etwa die Heuschrecken und fraßen alles, „was im Lande wuchs“ (vgl. 4Mose 10). Woher kamen die Heuschrecken? Nun, Mose streckte seinen Stab aus und Gott trieb einen Ostwind ins Land, der schließlich die Tiere heranbrachte. Gott nutzt hier die natürliche Ordnung, um den Pharao zum Umdenken zu bewegen. Obwohl das Ereignis so außergewöhnlich war, dass es so etwas als Wunder noch nie gab, ist es nicht widernatürlich. Heuschreckenplagen gab es damals wie heute. Aber Gott lenkte die Naturkräfte so, dass die gewünschten Wirkungen erzielt werden.

Natürlich gibt es auch Wunder, bei denen die natürliche Ordnung durchbrochen wird. Dass eine Eselin einen Engel sieht, können wir uns noch irgendwie natürlich erklären. Dass eine Eselin mit menschlicher Sprache redet, wie das bei Bileam der Fall war, lässt sich nicht mehr als natürliches Ereignis einordnen (vgl. 4Mose 22,15–33).

Wir sind deshalb gut beraten, wenn wir bei einer Definition von Wundern beide Aspekte berücksichtigen. Einerseits können Wunder den natürlichen Lauf der Dinge verdichten, wie das bei der Heuschreckenplage der Fall war. Gott nutzt also die natürlichen Abläufe, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Andererseits kann Gott direkt eingreifen und ein Wunder tun, so wie er das bei Bileam getan hat.

Die wichtigsten neutestamentlichen Begriffe für Wunder, teras und semeion, decken meiner Meinung nach beide Aspekte ab.9 Teras übersetzen wir mit „Wunder“ oder „ungeheuerliche Erscheinung.“10 Das Wort erscheint im Neuen Testament 16 mal, und zwar immer im Plural und stets in Verbindung mit semeion. Teras hebt die Stellung eines Ereignisses im Verhältnis zur übrigen Geschichte heraus. Das Wundersame und Übernatürliche einer Begebenheit wird unterstrichen.11

Semeion übersetzen wir mit „Kennzei­chen“ oder „bezeugendes Wunder“.12 Gemeint sind Zeichen, die den Anspruch der von Gott gesandten Boten unterstreichen. Ganz besonders beglaubigen sie die Sendung von Jesus Christus als Gottes Sohn. Das Kind in der Krippe ist nach Lk 2,12 so ein Zeichen. Auch bei der Wiederkunft wird das semeion des Menschensohnes am Himmel erscheinen (Mt 24,30). Diese Zeichen fordern zur Entscheidung heraus. Der Mensch kann sich ihnen gegenüber nicht neutral verhalten.

Wenn wir die beiden Aspekte zusammenführen, können wir sagen:

Wunder sind außergewöhnliche Macht­erweise Gottes, bei denen er natürliche Vorgänge besonders lenkt oder direkt eingreift.

Wunder sind Zeichen, die gewöhnliche menschliche Erfahrung durchbrechen, auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit binden und zur Entscheidung herausfordern.13

3 Wunderkritik

Mit den Zweilfen an den Wundern wurde auch die historische Glaub­würdigkeit der Bibel an anderen Stellen in Frage gestellt.

Moderne Wunderkritik überschneidet sich historisch mit der Bibelkritik. Dies lässt sich schon daran ablesen, dass beide Strömungen aus dem 17. Jahrhundert stammen und teilweise auf gleiche Akteure zurückgehen. Der Zusammenhang ist ein direkter. Eine zweifelnde Sicht auf die Wunderberichte animierte dazu, die historische Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift auch in anderen Fragen infrage zu stellen.

So gilt der Ham­burger Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) sowohl als Wunderkritiker wie auch als Wegbereiter der Bibelkritik. Mit seiner Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes begegnet Reimarus den biblischen Wunderberichten mit einem von der Vernunft geleiteten historischen Misstrauen. Die Wunder des Neuen Testaments seien zwar nicht so „vollkommen widersinnig und übertrieben“ wie die des Alten Testaments, unterlägen aber als Berichte von Menschen, „welche alle Mängel und Fehler des menschlichen Verstandes und Willens an sich hatten“, erheblichen Zweifeln.14 Neben Leichtgläubigkeit, Wunder­sucht und mangelhafter Unter­scheidung des Natürlichen vom Über­natürlichen müsse auch gezielter Betrug erwogen werden.

„Nicht ohne Grund habe Jesus seine Wunder nur vor zusammengelaufenem Volk vollbracht, das die Wahrheit nicht zu untersuchen wußte.“ (a.a.O. S. 19)

Während es für Spinoza keine Wunder geben konnte, war für Schleiermacher alles ein Wunder, was religiöses Bewusstsein zum Staunen bringt. Deswegen war die Auferstehung für ihn kein Teil der Lehre über Jesus, sondern nur über das christliche Bewußtsein.

Eine bedeutende Rolle spielt ebenfalls der jüdische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677). In seinem „Theologisch-politischen Traktat“ führt er gegen die biblischen Wunder an, dass sich alle wirklichen Geschehnisse notwendig nach Naturgesetzen zutragen. Da Gott ja selbst die Natur gesetzt habe, liefe eine Durchbrechung dieser Gesetze auf einen Selbstwiderspruch Gottes hinaus.

„Spinoza hat denn auch die Kritik an der Möglichkeit von Wundern in für die Folgezeit maßgeblicher Weise daraus begründet, daß die Unveränderlichkeit der Naturordnung notwendiger Ausdruck der Unveränderlichkeit Gottes selbst sei. Nach Spinoza würde es eine Unvollkommenheit des Schöpfers bekunden, wenn Gott äußerlich in den Gang der Natur eingreifen müßte, um ihren Lauf der Richtung seines Willens anzupassen.“15

Sie haben sicher bemerkt, dass der schon erwähnte Hume an den Deismus von Spinoza anknüpft. Die Bewegung des Deismus hat Gott als Schöpfer der Welt begriffen, der nicht in ihren Ablauf eingreift (Uhrmacher).

Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der Vater der Liberalen Theologie, setzt Argumente von Spinoza und Hume als zutreffend voraus. Es gibt für ihn keine Wunder im strengen Sinne. Freilich gibt es Ereignisse, die dem menschlichen Bewusstsein als Wunder erscheinen. Er beantwortet die Frage: „Was ist ein Wunder?“, so:

„Wunder ist nur der religiöse Name für Begebenheit, jede, auch die allernatürlichste, sobald sie sich dazu eignet, daß die religiöse Ansicht von ihr die herrschende sein kann, ist ein Wunder. Mir ist alles Wunder, und in Eurem Sinn ist mir nur das ein Wunder, nämlich etwas Unerklärliches und Fremdes, was keines ist in meinem.“16

Während also Spinoza Wunder kategorisch ablehnt, erklärt Schleiermacher alles zum Wunder, was das religiöse Bewusstsein in Staunen versetzt. Die Wunderberichte der Bibel sieht er dabei genauso misstrauisch wie Spinoza. Im Hinblick auf die Auferstehung konnte er sagen:

„Die Tatsachen der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi sowie die Vorhersagung von seiner Wiederkunft zum Gericht können nicht als eigentliche Bestandteile der Lehre von seiner Person aufgestellt werden.“17

Die Jünger erkannten in Jesus den Sohn Gottes, ohne etwas von seiner Auferstehung und Himmelfahrt zu ahnen. Und auch uns wird die Gegenwart Jesu rein geistig verheißen, nicht durch die Vermittlung historischer Ereignisse (ebd.). Glaubenssätze können vollständig verstanden und vermittelt werden, ohne das es eine Kunde von Tatsachen braucht (a.a.O. 83).

Ferdinand Baur meinte, dass Gottes Geist ausnahmlos Naturprozesse gebraucht, um zu wirken.

Ferdinand Christian Baur (1792–1860), der Vater der kritischen Paulusforschung, glaubte in seinen jungen Jahren noch an Wunder. 1818 besprach er ein bedeutendes Buch des Erlanger Theologen Gottlieb Kaiser (1781–1848). Darin beschwerte Baur sich darüber, dass Kaiser selbst mit der Auferstehung Jesu Schwierigkeiten hatte, obwohl diese doch für den christlichen Glauben zentral sei. Er schrieb:

„Es ist daher völlig unbegreiflich, wie von dem Verf. selbst die Geschichte der Auferstehung Jesu unter die historischen Mythen gerechnet werden kann. […] Es lässt sich demnach mit Recht behaupten, so gewiß die Entstehung einer christlichen Kirche nur durch den festen Glauben an den Auferstandenen möglich war, so gewiß konnte dieser Glaube auf keinem andern Grunde beruhen, als auf der historischen Wahrheit der Auferstehung Jesu.“18

Baur hält Wunder als historische Ereignisse für undenkbar. Aber sie hätten doch eine theologische Funktion, die ergründet und erhalten bleiben soll.

Unter Schleiermachers Einfluss hat Baur später freilich eine streng wunderkritische Haltung angenommen. Seine Position ist insofern besonders interessant, da sie Klarheit schafft und sich gegen jede Verschleierung der Wunderthematik wehrt. Nach Baur gebraucht Gottes Geist ausnahmslos Naturprozesse. Baur lehnt die Spiritualisierung des Wunderbegriffs ab, wie sie Schleiermacher betrieben hat (alles kann ein Wunder sein). Er lehnt aber auch Vermittlungsversuche ab, wie sie beispielsweise in Tübingen durch den großen Karl Hase (1800–1890) vorgetragen wurden.

Was ist mit Vermittlungs­versuchen gemeint? Karl Hase hatte in seinem Lehrbuch Das Leben Jesu die christliche Religion rationalistisch erklärt. Göttliches könne sich in der Menschheit nur als wahrhaft Menschliches offenbaren.19 Gott wirke nach den „eingebornen Qualitäten alles Seins, weil die Welt selbst in und durch Gott ist“ (ebd). Von daher könne eine einzelne Tatsache „niemals mit wissenschaftlicher Sicherheit als Wunder erkannt werden“.20

Aber Hase wollte die Katze nicht ganz aus dem Sack lassen. Denn ihm war klar, dass die völlige Ablehnung von Wundern das Christentum an der Basis in Verlegenheit bringen würde. Er schrieb an Baur:

„Sie wissen recht gut, daß ich Wunder im absoluten Sinne als eine Verkehrung der Naturgesetze, des göttlichen Willens auf Erden, nicht für möglich halten kann, daß ich aber uns noch unbekannte Kräfte, namentlich plötzlich wirkende Heilkräfte, […], in Jesu anerkennen muss. Ich wünsche allerdings die heilige Geschichte, auch ihre Wunder, schonend und zart zu behandeln, eben weil es mir und meinem Volke eine heilige Geschichte ist, aber das hat mich nie abgehalten in einem wissenschaftlichen Werke nach den etwa erkennbaren natürlichen Ursachen zu forschen und dadurch das Ereignis auf seinen letzten wahren geschichtlichen Boden zu erkennen, mußte dadurch auch der eigentliche Wunderglaube mehr oder weniger erbleichen.“

Das Manöver ist gut erkennbar: „Absolute Wunder gibt es nicht. Aber ich möchte das nicht so laut sagen, da die biblischen Geschichten den Menschen viel bedeuten.“ Baur hat diesen Vermittlungsversuch durchschaut und geantwortet:

„Da Sie aber auf der andern Seite recht gut wissen, daß es kein absolutes Wunder gibt, so können Sie auch die Auferweckung des Lazarus für kein wirkliches Wunder halten, Lazarus kann somit nicht wirklich todt gewesen sein; denn wäre er vom wirklichen Tode auferweckt worden, so wäre dies ein absolutes Wunder gewesen, das nicht für möglich zu halten ist.“21

Es spricht für Baurs Aufrichtigkeit, dass er sich gegen den Versuch stellt, nur aus Rücksichtnahme auf die Kirchgänger so zu tun, als würde man an Wunder glauben. Es spricht ebenso für ihn, dass er sich gegen Versuche sperrt, Wunder natürlich zu erklären.22

Der hermeneutische Umgang mit den biblischen Wundertexten endet bei Baur nicht mit der Behauptung: „Es gibt keine Wunder!“ Er gönnt den antiken Autoren ihre Sicht auf die Welt. Ihre antike Auffassung sei zu respektieren. Als historische Ereignisse sind Wunder für Baur gleichwohl undenkbar. Die biblischen Wundertexte sind zeitbedingt und haben dennoch eine legitime theologische Funktion. Sie müssen daher nach ihrer idealen Bedeutung befragt werden. Es sei also herauszufinden, was ihre tiefere Wahrheit ist.

Wir finden bei Baur somit bereits Ansätze des Pro­gramms, das Rudolf Bultmann und andere später als Ent­mytho­logi­sie­rung weitergeführt haben. Wir wollen deshalb unseren historischen Teil abschließen, indem wir einen Blick auf Bultmann werfen.

Bultmann hatte den positiven Anspruch, mit seiner Methode das Neue Testament für den modernen Menschen mit seinem Welt­verständnis wieder zugänglich zu machen.

Rudolf Bultmann (1884–1976) hatte sich viele Jahre mit dem Problem beschäftigt, wie sich Geschichte und Offenbarung zueinander verhalten und auch darüber publiziert. Ein 1941 gehaltener Vortrag zu dem Thema Neues Testament und Mythologie macht ihn schließlich quasi über Nacht weit über die theologischen Kreise hinaus berühmt.

Bultmann möchte das Wort der Bibel wieder so verständlich machen, dass es auch die aufgeklärten Menschen der Neuzeit als Anrede Gottes verstehen können. Was das Wesen des Wortes der Bibel verdunkele und verfälsche, sei der tiefe Graben zwischen der mythologischen Vorstellungswelt der biblischen Autoren und der aufgeklärten Weltsicht moderner Menschen. Unser Weltbild werde durch die Wissenschaft bestimmt, das Weltbild des Neuen Testaments sei hingegen durch und durch mythologisch gewesen.

Das Neue Testament stelle uns einen dreistöckigen Kosmos vor, in dem jeweils Gott, Satan und Mensch zu Hause seien. Für uns sei so ein Weltverständnis nicht mehr akzeptabel. Es sei, so liebte Bultmann zu beschwören, „erledigt!“ Hören wir einmal auf seine Worte:

„Erledigt sind die Geschichten von der Höllen- und Himmelfahrt Christi – erledigt ist die Vorstellung von einer unter kosmischen Katastrophen hereinbrechenden Endzeit – erledigt ist die Erwartung des auf den Wolken des Himmels kommenden Menschensohnes – erledigt sind die Wunder als bloße Wunder – erledigt ist der Geister- und Dämonenglaube. Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparaturen benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des NT glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“23

Der Mensch von heute sei ein geschlossenes Wesen, dass sich selbst sein Denken, Fühlen und Wollen zuschreibe. Die Transzendenz, die für die antiken Autoren noch wie selbstverständlich zum Erleben gehörte, bleibe dem aufgeklärten Menschen verborgen.

Wie nun ist dieser große Widerspruch zwischen der mythologischen Welt der Bibel und dem Weltbild und Selbstverständnis des modernen Menschen aufzulösen?

Seine Antwort lautet: Soll die Verkündigung des Neues Testa­mentes ihre Gültigkeit behalten, so gibt es gar keinen anderen Weg, als sie zu entmythologisieren. Bultmann fordert nicht die Eliminierung des Mythos, sondern seine existenziale Interpretation. Er will die mythologischen Vorstellungen nicht ausschalten, sondern auf ihr Existenzverständnis befragen. Das Neue Testament soll gerade nicht vom Mythos befreit werden, sondern der tiefere Sinn, die nicht offensichtliche Bedeutung der Texte soll aufgedeckt und verkündet werden. Entmythologisierung ist für Bultmann also nicht eine Verkürzung der Botschaft, sondern seine hermeneutische Methode zum Aufschließen der eigentlichen Botschaft.

Wir haben bei unserem Gang durch die Geschichte der Wunderkritik verschiedene Wunderverständnisse kennengelernt. Wenn wir versuchen, diese einmal zu systematisieren, ergibt sich vereinfacht folgendes Bild:

I. ABSOLUTES WUNDER

Faktische Wunder, Gott greift übernatürlich (wie auch immer) ein oder nutzt Naturvorgänge in besonderer Weise.

II. NATURBELASSENES WUNDER

Gott wirkt ausschließlich im Rahmen natürlicher Gesetze und Kräfte.

a) Spiritualisierung (geistliche Interpretation natürlicher Vorgänge)

b) Rationalisierung (Suche nach natürlichen Erklärungen)

c) Entmythologisierung (ideale oder existentiale Interpretation)

III. SCHEINBARE WUNDER

Vermittlungsversuch, Wunder, die eigentlich keine sind.

Ich werde Sie nicht schockieren, wenn ich Ihnen sage, dass man absoluten Wundern heute mit größter Skepsis begegnet. Damit kommen wir zum dritten Teil des Vortrags.

4 Christliche Existenz jenseits von Wundersucht und Wunderscheu

Die heute so verbreitete Wunderscheu unter den Theologen darf eigentlich nicht überraschen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatten die Menschen in der Regel keine Probleme damit, göttliche Wunder anzunehmen. Im Abendland wurde bis dahin nicht viel darüber diskutiert, ob Gott da ist und er Wunder verursachen kann. Verhandelt wurde, wie er Wunder verursacht und wodurch echte Eingriffe Gottes von unechten unterschieden werden können.

Die Emanzipation des neuzeitlichen Vernunft­konzepts vom christlichen Offenbarungs­glauben macht sich auch bei denen bemerkbar, die die Auferstehung für ein Ereignis in der Geschichte halten, es aber dennoch ganz der Glaubenswelt zuordnen wollen.

Erst mit der Aufklärung öffnete sich der Raum für die Wunderkritik auf der Grundlage einer universellen Vernunft, die nicht mehr an Offenbarung gebunden ist. Die Aufklärung war eine verwickelte Strömung. Vieles war gut und hilfreich, etliche Christen haben übrigens an ihr mitgewirkt. Insgesamt emanzipierte sich jedoch das neuzeitliche Vernunftskonzept von dem christlichen Offenbarungsglauben. Das hat allmählich dazu geführt, dass in der Theologie atheistische Methoden salonfähig wurden.

Der Martin Hengel-Schüler Roland Deines hat in seinem programmatischen Aufsatz „Gottes Rolle in der Geschichte als methodisches Problem für die Exegese“ davon gesprochen, dass sogar sein geschätzter Lehrer im Grunde methodisch einer naturalistischen Geschichtsauffassung gefolgt sei. Zwar behauptete Hengel, dass die Auferstehung Jesu ein Ereignis in Raum und Zeit war. Zugleich betonte er jedoch, dass für die ersten Christen die Auferstehung ein Glaubensbekenntnis geblieben sei. Auf Ereig­nisse wie eine Auferstehung von den Toten könne mit objektivierenden Mitteln nicht zugegriffen werden. Sie seien einer Welt fremd, die von den Naturwissenschaften und Technologien bestimmt ist. Der auferstandene Jesus werde in den Evangelien als real beschrieben und bleibe dennoch mysteriös und unfasslich.24

Theologen an den Universitäten arbeiten also mit Methoden, die ihnen von einem säkularen Wissenschaftsbetrieb gewissermaßen aufgezwungen werden. Ich möchte sogar behaupten, dass auch Evangelikale sich gelegentlich diese Methoden gutgläubig aneignen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was für Konsequenzen das hat. Übernehmen wir nämlich die Denkvoraussetzungen eines Spinoza oder Hume, öffnen wir uns für ihre zirkuläre Argumentation. Naturalisten und Empiristen setzen voraus, dass es keine Wunder gibt. Folglich sind sie gezwungen, alle Ereignisse, die ihnen begegnen, wunderfrei zu interpretieren. Lesen wir als Christen mit so einer Brille die Bibel, bleiben wir blind für die Bezeugungen göttlicher Wunder. Es kann dann nämlich nicht sein, was nicht sein darf.

Deshalb sollten wir diese Brille gar nicht erst aufsetzen oder sie wieder absetzen. Gewinnen wir etwas Abstand von den misstrauischen Voraussetzungen einer säkularisierten Wissenschaft, beginnen wir wieder zu staunen und anzubeten.

Warum sollte Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, nicht über Möglichkeiten verfügen, auf besondere Weise in den Lauf der Dinge einzugreifen? Ich möchte Mut machen, sich von den Filtern der weltlichen Gelehrtheit zu lösen und die Schrift und die Welt mit glaubenden Augen zu studieren.

Wie genau vollbringt Gott Wunder? Ich kann es nicht erklären. Ich gehöre zum Ton und kann nicht über die Klugheit des Töpfers verfügen (vgl. Jes 29,16; 45,9). Und doch bin ich überzeugt, dass es nicht unvernünftig ist, zu glauben, dass Gott es kann. Christliche Gelehrte haben mehrere leistungsfähige Denkangebote vorgelegt.

Drei stelle ich kurz vor:

C. S. Lewis war der Meinung, dass Natur­gesetze auf Wunder gar nicht zutreffen (Alvin Plantinga denkt darüber ähnlich). Da Naturgesetze nur materiell verursachte Vorgänge erfassen, sagen sie nichts über Ereignisse aus, die eine geistige Person hervorbringt. Der Philosoph Jan Cover, der diesen Ansatz aufgenommen hat, sagt dazu:

„Wenn man glaubt, daß es Ereignisse mit übernatürlichen Ursachen gibt, muß man nicht glauben, daß es falsche Naturgesetze gibt oder daß die Naturgesetze Ausnahmen haben. Wunder sind sozusagen ‚Lücken‘ in der Natur; Geschehnisse, die Ursachen haben, über welche die Naturgesetze einfach schweigen. Die Naturgesetze sind wahr, aber sie sagen einfach nichts über Ereignisse, die durch göttlichen Eingriff verursacht werden.“25

Richard Swinburne geht wie Hume davon aus, dass Wunder die Naturgesetze verletzen oder quasi verletzen. Er deutet dabei ein Wunder so, als ob es nicht wiederholbare oder wiederholbare Ausnahmen von den Naturgesetzen sind. Gott könne, so Swinburne, mit solchen Abweichungen arbeiten. Wunder seien ja auch nicht alltäglich.26

Daniel von Wachter geht einen anderen Weg. Er hinterfragt die verbreitete Sicht der kausalen Struktur der Welt. In seiner Habilitation hat er die These aufgestellt, dass Naturereignisse gar keine Abfolgeregelmäßigkeiten implizieren, sondern lediglich Gerichtetheiten beschreiben. Wunder wären damit keine Verletzungen von Naturgesetzen. Bei einem Wunder blieben die Kräfte, die gemäß der Naturgesetze wirken, bestehen. Gott kann aber jederzeit eingreifen, ohne die von ihm eingerichtete Ordnung zu zerstören. Von Wachter schreibt:

„Betrachten wir den auf dem See Genezareth gehenden Petrus. Gott verhindert, daß Petrus ins Wasser sinkt, er hält ihn. Was sagen die Naturgesetze darüber? Sie sagen, daß dort bestimmte Tendenzen bestehen, nämlich daß eine Gravitationskraft vorliegt, die Petrus nach unten zieht. Ist das Wunder im Widerspruch zum Naturgesetz? Nur, wenn Gott, die Gravitationskraft vernichtet. Tut er das? Auch wenn Gott das könnte […], gibt es keinen Grund dafür anzunehmen, daß er so eine drastische Maßnahme ergreift; Gott kann Petrus halten, ohne Tendenzen zu vernichten. Er erhält Petrus und dessen Leib, das Wasser und die Tendenzen, und indem er Petrus hält, wirkt Gott der Tendenz entgegen, die auf Petrus’ Inswassersinken gerichtet ist.“27

Naturgesetze machen Wunder nicht unmöglich, sie beschreiben lediglich die Regelmäßigkeiten in unserer Welt. Ob ein Wunder geschehen kann oder nicht, hängt nicht von Naturgesetzen, sondern von unserer allgemeinen Weltsicht ab. Empiristen wie Hume werden durch ihren Glauben daran gehindert, Wunder anzuerkennen. Der christliche Glaube ist hingegen offen für Wunder. Die Geschichte des Volkes Israel bezeugt Wunder nicht nur an ihrem Rand, sondern in der Mitte. Die Geschichte der christlichen Gemeinde beginnt mit einem Wunder. Nämlich damit, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde.

Er wurde von einer Jungfrau geboren. Wird in der Literatur die Jungfrauengeburt infrage gestellt, dann meist verbunden mit dem Hinweis, dass es sich um einen neutestamentlichen Randvermerk handele. Aber stimmt das? Ist es nicht von enormer Bedeutung für das Erlösungswerk, dass Jesus Mensch und Gott zugleich war? Wäre Jesus nicht übernatürlich gezeugt worden, so wie die Evangelisten Matthäus und Lukas das überliefern, dann wären die Erzählungen verlogen. Doch ist das Problem größer: Die gesamte Christologie käme ins Wanken, da Jesus nämlich nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre.28

Der Sohn Gottes war gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Gott hat den,

„der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2Kor 5,21). „Christus hat uns freigekauft vom Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch geworden ist …“ (Gal 3,13).

Deshalb wurde Jesus vom Vater erhöht. Am dritten Tag ist er auferstanden. Ohne Auferstehung gibt es keine Gemeinde mit einer Auferstehungs­hoffnung. Paulus schreibt im Korintherbrief:

„Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Wir würden dann auch als falsche Zeugen Gottes befunden, weil wir gegen Gott bezeugt hätten, …“ (1Kor 15,14–15)

Die christliche Auferstehungs­hoffnung beruht auf der Tatsächlichkeit der Auferstehung von Jesus. Für die ersten Christen wäre eine rein geistige Auferstehungs­hoffnung undenkbar gewesen.

Nun ist aber Jesus Christus tatsächlich auferstanden. Paulus legt Wert darauf, dass der Auferstandene von mehr als fünfhundert Brüdern gesehen wurde (vgl. 1Kor 15,6). Die Auferstehung Jesu war ein Ereignis in Zeit und Raum. Es gibt inzwischen etliche substantielle Untersuchungen darüber, dass für Juden oder Christen eine rein geistige Auferstehungshoffnung undenkbar gewesen wäre. Ein göttliches Zeichen für die Auferstehungshoffnung musste eine leibliche Auferstehung sein.29

Wir haben allen Grund, hoffnungsvolle Menschen zu sein. Trotzdem werden wir die Bedeutung dessen, was auf Golgatha geschah, ohne Glauben, den der Heilige Geist schenkt, nicht verstehen können. Es ist eine jüdisch-christliche Besonderheit, dass sehr viel Wert auf die Zusammengehörigkeit von Glaube und Geschichte gelegt wird. Als Christen verlieren wir den Inhalt unseres Glaubens, wenn wir ihn von der Geschichte lösen. Zugleich braucht es Glauben, um die Zeichen, die Gott in Raum und Zeit aufgerichtet hat, richtig zu interpretieren.

5 Schluss: Wunder verweisen auf etwas Größeres

Wir sollten nicht vergessen, dass Wunder Zeichen sind. Sie zeigen die Macht Gottes, das Kommen des Sohnes, die Ankunft seines Reiches, sie bezeugen Jesu Herrschaft. Sie sind Zeichen, die uns zum Evangelium weisen. Luther sagte einmal trefflich:

„Gottes Wunder geschehen nicht darum, dass wir sie ermessen und fangen, sondern damit wir glauben und getrost werden sollen.“30

Der Christ ist kein wundersüchtiger Schwärmer. Die Offenheit für Wunder darf nicht zur Wundersucht führen. Erinnern wir uns an die Reformatoren. Sie haben einerseits die biblischen Wunder bekräftigt, um Gott für seine Wundertaten anzubeten. Auf der anderen Seite haben sie viel Zeit damit verbracht, den leichtsinnigen Aberglauben innerhalb der Kirche zu bekämpfen.

Noch einmal möchte ich Luther zitieren:

„Wunder und Plagen beweisen nichts, besonders in dieser letzten ärgsten Zeit, von welcher falsche Wunder verkündigt sind in aller Schrift: darum müssen wir uns an die Worte Gottes halten mit festem Glauben, so wird der Teufel seine Wunder wohl lassen.“31

Zeichen und Wunder können nicht nur vorgetäuscht werden, sie haben manchmal einen bösen Ursprung. Der Teufel und seine Diener äffen die Taten Gottes nach. Jesus warnt in einer Endzeitrede: „Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, sodass sie, wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten verführten“ (Mt 24,24). Diese Pseudowunder sind daran erkennbar, dass sie die Menschen von Gott, seinem Sohn, seinem Wort und seinen Geboten abziehen. Solche Machterweise fördern nicht den Glauben, sondern die Sünde. Eine prominente Beschreibung dieser Wunderzeichen finden wir in 2Thess 2,9–10:

„Hinter dem Auftreten des Gesetzlosen steht der Satan mit seiner Kraft, was sich in allen möglichen machtvollen Taten zeigen wird, in Wundern und außergewöhnlichen Geschehnissen – allesamt Ausgeburten der Lüge –, in Unrecht und Irreführung aller Art. Damit wird es dem Gesetzlosen gelingen, die zu verführen, die ihrem Verderben entgegengehen. Sie gehen verloren, weil sie die Wahrheit, die sie hätte retten können, nicht geliebt haben.“

Christen sind weder wundersüchtig noch wunderscheu. Sie bewahren sich eine wachsame und prüfende Haltung, denn es gibt auch eine Verführung mit machtvollen Taten, Wundern und außer­gewöhnlichen Ereignissen.

Christen laufen also nicht jedem Wunder hinterher und sie bewahren sich eine wachsame und prüfende Haltung, lernen, die Geister zu unterscheiden. Christen sind weder wunderscheu noch wundersüchtig.

Der tiefere Sinn der Wunder liegt darin, dass sie der Welt zeigen, dass mit ihr etwas nicht stimmt und bei Gott Rettung zu finden ist. Das Matthäusevangelium berichtet im 12. Kapitel, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer auf Jesus zugingen und ein Zeichen von ihm forderten: „Jesus, wir möchten ein Zeichen (semeion) sehen!“.

Die Antwort, die Jesus ihnen gibt, überrascht. Er verweist auf das Zeichen des Jona.

Zunächst einmal sollten wir registrieren, dass der ganze Dialog nur dann einen Sinn ergibt, wenn Jesus den Propheten Jona als historische Person betrachtet hat und daran glaubte, dass Jona tatsächlich drei Tage im Innern des Seeungeheuers verbrachte. Jesus kennt folglich keine Aufspaltung zwischen der Welt der Bibel und der Welt der Geschichte. Jesus deutete die Jonageschichte prophetisch auf sein eigenes Erlösungswerk hin. So, wie Jona drei Tage im Innern des Tieres verbrachte, wird er selbst drei Tage im Herzen der Erde verbringen und doch auferstehen. Das ist das Zeichen für Israel. Jesus ist der etwa in Daniel 7 angekündigte Menschensohn.

Es fällt aber noch etwas auf. Jesus lehnt die Zeichenforderung ab und konfrontiert seine Gesprächspartner mit dem, was wichtiger ist, mit dem, was schwerer wiegt als Wunder. Er konfrontiert sie mit ihrer Sündhaftigkeit und knüpft an die Bußpredigt von Jona an.

Vielleicht können wir sagen, dass göttliche Wunder Gesetz und Evangelium repräsentieren.32 Indem sie der Welt zeigen, dass sie im Argen liegt, dass sie der Sünde dient, verkündigen sie Gesetz, Gottes Gericht über das Böse. Indem Wunder auf die Macht Gottes und vor allem auf Jesus verweisen, führen sie den Menschen zum Evangelium. Das Evangelium sagt uns: Es gibt Rettung. Jesus ist der Erlöser. Jesus hat die Sünde und den Tod besiegt. Jesus ist der Messias, bei ihm, nur bei ihm, ist Heil zu finden.

Der Vortrag wurde auf der Konferenz 2019 in Rehe gehalten.


  1. Zitiert nach idea, URL: https://www.idea.de/spektrum/detail/wenn-das-geistliche-regiment-gegen-das-evangelium-lehrt-109640.html (Stand: 16.10.2019). 

  2. Siehe dazu: https://www.biblisch-lutherisch.de/app/download/11215194199/Auferstehung+ Bischof+Ulrich.pdf (Stand: 18.10.2019). Nachdem Jochen Teuffel ein Predigtverbot für Ulrich forderte, antwortete dieser in einer Predigt damit: „In einem Artikel von mir in unseren Kirchenzeitungen, in dem es um eine Bildbetrachtung zu Karfreitag und Ostern geht, stehen Formulierungen, die, vor allem, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang isoliert, zu Missverständnissen, Irritationen und bei manchen sogar zum Verdacht geführt haben, ich würde die leibliche Auferstehung Jesu von den Toten leugnen. Ich sage hier in aller Deutlichkeit: das tue ich natürlich nicht, das liegt mir fern. Wer mich kennt, weiß, dass ich, wie alle Christenmenschen, aus der Kraft der Auferstehung lebe, aus der lebendigen Hoffnung, die ihren Grund in der Gewissheit hat, dass der Tod überwunden ist und nicht das letzte Wort behält, dass das Leben siegt. Das leere Grab am Ostermorgen ist für mich eine Glaubenstatsache, die nicht zu leugnen ist.“ Siehe URL: https://archive.fo/20190325095430/https://www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/die-auferstehung-ist-und-bleibt-geheimnis/#selection-5039.0-5039.780 (Stand: 18.10.2019). Das belegt nur die Aufspaltung von Glauben undWissen. 

  3. Sebastian Rink, „Glaube ich an die ‚Jungfrauengeburt‘?“, Christsein heute, 12/2016, S. 10–12. 

  4. Dieses Begriffspaar habe ich von Adolf Köberle übernommen aus: Adolf Köberle, Christliches Denken, 1962. 

  5. Es wurde z. B. über fremde Wundertäter diskutiert (vgl. Lk 9,49–50) oder auch darüber, welche Funktion Wunder haben (vgl. Apg 2,22). Und auch die Wundersucht wurde erörtert (vgl. Mk 8,11ff.). 

  6. Bernhard Bron, DasWunder, 1975, S. 14. 

  7. Bernhard Bron, DasWunder, 1975, S. 16. 

  8. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand,1993 [1748]. 

  9. Es gibt noch dynamis, die Machttaten, z. B. Apg 2,22, wo alle drei Begriffe zusammen stehen, taumasia für Wunder (nur Mt 21,15) und paradoxa für außergewöhnliche Dinge (nur in Lk 5,26). 

  10. Vgl. EWNT, Bd. 3, 1992, Sp. 838. 

  11. Siehe dazu Helmut Thielicke, „DasWunder“, in:Theologie der Anfechtung, 1949, S. 94–134, hier S. 103. 

  12. Vgl. EWNT, Bd. 3, 1998, Sp. 569. 

  13. Wenn ich davon spreche, dass Gott bei Wundern direkt eingreift, sage ich damit nicht, dass Gott die Welt sonst sich selbst überlassen hat. Als Erhalter aller Dinge lenkt Gott sonst die Geschicke nach den Ordnungen, die er erschaffen hat. 

  14. Hermann Samuel Reimarus, Apologie, 1972 [1814], 2 Bde., S. 378, zitiert aus: Bernd Kollmann, Jesus und die Christen alsWundertäter: Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, 1996, S. 18. 

  15. Wolfhart Pannenberg, SytematischeTheologie, Bd. 2, 2015, S. 61. 

  16. F. Schleiermacher, Über die Religion, 1919 [1799], S. 90 [S. 116–118]. 

  17. Friedrich Schleiermacher, Glaubenslehre, Bd. 2, 1960 [1831], S. 82. 

  18. Ferdinand Christian Baur, Die biblische Theologie, S. 715. Zitiert nach: Stefan Alkier, „Wunderglaube als Tor zum Atheismus“, in: M. Bauspiess, C. Landmesser u. D. Lincicum (Hg.), Ferndinand Christian Baur und die Geschichte des Christentums, WUNT 33, 2014, S. 285–311, hier S. 292. 

  19. K. Hase, Das Leben Jesu, 1865, S. 19. 

  20. Karl Hase, Die Tübinger Schule, 1855, S. 13–14. 

  21. Ferdinand C. Baur, Beantwortung des Sendschreibens, 1855, S. 24. 

  22. So gab und gibt es etwa Anläufe, Heilungswunder oder Dämonenaustreibungen in der Weise zu erklären, dass dabei Menschen von Krankheiten geheilt worden sind. Der Gedanke geht etwa so: Für das, was man früher als dämonische Besessenheit wahrgenommen hat, kennen wir heute das Krankheitsbild Epilepsie. 

  23. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos, hrsg. v. Hans-Werner Bartsch, Bd. 1, 1960, S. 15-48, hier: S. 17–18. 

  24. Roland Deines, Acts of God in History, 2013, S. 16–17. 

  25. Zitiert nach Daniel von Wachter, „Wunder sind keine Verletzungen der Naturgesetze“, S. 26–27. URL: http://sammelpunkt.philo.at/2586/1/Wachter_2016-Wunder.pdf (Stand: 17.10.2019). 

  26. Vgl. Richard Swinburne, Die Existenz Gottes, 1987, S. 316–320. 

  27. von Wachter, „Wunder sind keine Verletzungen der Naturgesetze“, S. 25. 

  28. Siehe dazu das hilfreiche Buch: Brandon D. Crowe, Wurde Jesus von einer Jungfrau geborren?, Dillenburg: CV, 2016. 

  29. Vgl. Gary Habermas u. Michael Licona, The Case for the Resurrection of Jesus, 2004; N. T. Wright,The Resurrection of the Son of God, 3 Bde, 2003; Jürgen Spieß, Ist Jesus auferstanden? Ein Historiker zur Auferstehung von Jesus Christus, 2011. 

  30. Martin Luther,WA, 10I. 1, S. 269, 3–5. 

  31. WA, 6, S. 414, 31–33. 

  32. Helmut Thielicke legt sehr viel Wert auf diesen Aspekt. In: H. Thielicke, „Das Wunder“, in: Theologie der Anfechtung, 1949, S. 94–134, hier S. 118–120.