LiteraturBuchbesprechungen

Anders als geglaubt: mit Christus vor Augen

Preston Ulmer versteht sich in den USA als Seelsorger für Menschen, die in evangelikalen Gemeinden aufgewachsen, ihren Glauben verloren haben und auch ihre Gemeinden verlassen. Ursache sind meist Zweifel an der Glaubenslehre, die nicht überwunden werden und Ver­letzungen durch Machtmissbrauch in den Gemeinden. Ulmer schreibt sein Buch als Ergebnis vieler solcher Begegnungen und 60 Interviews mit Menschen, die sich „entkehrt“ und ihren Glauben „dekonstruiert“ haben. Das Wort stammt aus der postmodernen Philosophie, scheint aber in den USA inzwischen ein Modewort für einen Prozess, in dem ein evangelikal geprägter Glaube zerschlagen und aus einzelnen Stücken ein neuer Glaube aufgebaut wird. Zu den Interviewpartnern gehört auch Joshua Harris, der mit seinem Buch Ungeküsst und doch kein Frosch auch in Deutschland bekannt wurde. Dann distanzierte er sich vom Glauben und auch von dem Buch, in dem er auf ansprechende Weise für einen biblisch keuschen Umgang mit der eigenen Sexualität geworben hatte. Wie es zum Glaubensverlust bei ihm kam, wird m.E. recht gut herausgearbeitet. Joshua Harris meint in der Rückschau, dass er zu einem „elitären Denken“ erzogen wurde, das seinen Glauben bestimmte. Mit dem habe er viele Lehren einfach angenommen, ohne sie wirklich zu überdenken und zu verinnerlichen. Als seine Fragen anfingen, ihn innerlich zu zerfressen, hatte er vor Augen, dass er mit seinen Zweifeln keinen Platz unter den Evangelikalen haben könnte und brach völlig mit der Bewegung. Preston Ulmer möchte den Raum für Fragen und Zweifel am Glauben in der Gemeinde bewahren, damit sich Menschen bei Zweifeln und Fragen nicht völlig abwenden.

Dazu will der Autor Christen ermutigen, ihren Glauben gezielt zu „dekonstruieren“ und stellt eine Methode vor, wie man das machen kann und dabei die „Religion“ am bisherigen Glauben überwindet und zum wahren Jesus-Glauben findet. Der Originaltitel zeigt diese Absicht besser: „Deconstruct Faith, Discover Jesus“, „Dekonstruiere den Glauben und entdecke Jesus“. Preston Ulmer hat selbst „einen Prozess der Dekonstruktion“ durchlebt, in dem er „verzweifelt nach einem Glaubenssystem“ suchte, „das in den Stürmen des Lebens nicht in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Das theologische Gebäude, das ich geerbt hatte, war nicht mein eigenes, und ich wusste, dass es ein Problem mit dem Fundament gab“ (12). Nicht mehr die Aussagen der Bibel oder eine „geerbte“ Glaubenslehre, die er wiederholt als „dogmatischen Fundamentalismus“ bezeichnet, wurde sein neues Fundament, sondern: „Das Leben von Jesus – das ist jetzt der Eckpfeiler meiner Ansichten über Gott, die Bibel, die Hölle, Politik, Sexualität und jedes andere Tabuthema“ (12). Dekonstruktion soll der „Betriebsmodus ihres Gebetslebens und ihrer Bibellektüre“ sein. Ein „Dekonstruierender“ zu sein, bedeute „in der Gesellschaft von Jesus“ zu sein: „Und wenn du erst einmal selbst von unserem dekonstruierenden Erlöser getröstet worden bist, kannst du die Methode, die ich auf den folgenden Seiten vorstelle, auch anderen als Trost anbieten“ (21).

Ulmer sieht sich in der Rolle eines Reformators wie Martin Luther oder die Propheten Hosea oder Jesaja (31-37). „Das Ziel der Reise“ ist allerdings für Ulmer ausdrücklich nicht, dass er nach der Dekonstruktion des Glaubens eine neue „Rekonstruktion“ aufbaut und sie dem alten Glauben als attraktive Alternative gegenüberstellt (19). Es geht um ein christliches Leben und Glauben in der dauernden „Dekonstruktion“. Allerdings soll der Mensch dabei kein Skeptiker werden. Wie das gehen soll, bleibt im Ungefähren. Irgendwie werde sich im Prozess ein neuer Glaube „konstruieren“: „Jeder, der dekonstruiert, baut auch wieder irgendeine Art von Glauben auf“ (183). Ulmer will den alten Glauben mit „Dynamit“ abbrechen: „Die Zeit, in der wir leben, verlangt nach etwas Drastischem“ (41). Seine Hoffnung geht allerdings dahin, dass beim Abbrechen und Wegsprengen am Ende Jesus übrigbleibt. „Wenn es darum geht, unsere Religion zu dekonstruieren, müssen wir das Dynamit in Position bringen und die Lunte anzünden. Das Ziel ist es, Jesus zu offenbaren …“ (41-42).

Ulmer, Preston: Anders als geglaubt: mit Christus vor Augen. Dekonstruktion verstehen. Holzgerlingen SCM Brockhaus 2024. 224 S. ISBN 978-341701012-1. 18,00 €

Die Dekonstruktion, die Jesus nach Preston Ulmer auch so vorgenommen hätte, richtet sich auf Themen, die nicht aus der Bibel oder dem Leben mit Jesus geboren sind, sondern das Feld der Anfragen aus der spätmodernen Gesellschaft umfasst: „die Behandlung und Ausgrenzung der LGBTQ+-Gemeinschaft“, der Zorn Gottes und eine ewige Strafe, ein reines Leben besonders in sexueller Hinsicht („Purity Culture“), eine „platte“ Betrachtung der Bibel als Gottes Wort und Politik in der Gemeinde. Die Methode soll aus der Bibel stammen (145). Nach der Dekonstruktion kann man sich offen zur LGBTQ+-Gemeinschaft zählen (136), muss nicht an die Irrtumslosigkeit der Bibel glauben, sondern nur an Jesus festhalten. Leitfragen sollen dabei sein: Woher stammt eine Über­zeugung? Wem nützt sie? Wem schadet sie? Bsp.: Die biblische Forderung der Unter­ord­nung für Frauen z.B. schade „49,6%“ der Menschen und nutze nur den Männern. Auch der Familie würde durch die Unterordnung der Frau geschadet (154). Dass ein Ergebnis einer Prüfung so aussehen könnte, dass die Ordnung des Verhältnisses von Mann und Frau von Gott stammt und dass der Schaden nicht von der Ordnung herrührt, sondern vom Missbrauch der Ordnung, scheint bei der Dekonstruktion nicht möglich.

Dass Preston Ulmer solchen helfen will, die in christlichen Gemeinden Ent­täuschungen, Verletzungen und Sünde erlebt haben, erscheint mir ein wichtiges Anliegen. Die Briefe des Neuen Testaments, die diese Nöte auch behandeln, ermutigen aber nicht zum „Dekonstruieren“, also alle Lehre und ethische Ordnung in Frage zu stellen und sie „wegzusprengen“ in der Hoffnung, dass am Ende das Gute stehen bleibt. Preston Ulmer vermittelt die trügerische Hoffnung, dass letztlich der reine Jesus übrigbleibt. Er untergräbt aber das Vertrauen auf die Bibel und so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass am Ende irgendein ausgedachter Jesus steht. Wenn enttäuschte Christen mit diesem Buch nach Heilung suchen, werden sie ermutigt, in Zorn und Schmerz zu zerschlagen, was ihnen einmal wichtig war. Aber sie können so keinen tragenden Glauben finden.