Im Torawochenabschnitt, der unter der Überschrift „Naso“ im 4. Buch Mose, 4,21-7,89 steht, findet sich auch der so genannte Priestersegen. Als das Volk Israel in der Wüste lagerte, redete der Herr mit Mose darüber, dass Aaron und seine Söhne, also die Priester, Israel segnen sollten. Und er sagte genau, mit welchen Worten das geschehen solle. Hebräisch ist eine sehr kompakte Sprache. Manchmal müssen zwei Worte im Deutschen mit einem ganzen Satz wiedergegeben werden. „So sollt ihr sagen, zu den Kindern Israels, wenn ihr sie segnet“, übersetzte Martin Luther. Er veränderte die Satzstellung. Wörtlich steht im Text:
„So sollt ihr die Kinder Israels segnen, sagt zu ihnen: ‚Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.’ Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne“ (4. Mose 6,22-27).
Alle Ausleger sind sich darin einig, dass dieser Segen sowohl materielles, physisches Wohl als auch geistlichen Reichtum beinhaltet und in einem alles umfassenden Friedenswunsch gipfelt. So möchte der Herr die Israeliten segnen und die Priester sollen ein Instrument dieses Segnens sein. Obwohl dieser Segen über eine Volksmenge ausgesprochen wird, ist er in der zweiten Person formuliert und dadurch persönlich ausgerichtet. Jeder Einzelne soll gesegnet werden.
Dieser Segen wird in Israel jeden Tag während des Morgengebets gesprochen, am Schabbat und an Feiertagen im Zusatz – dem Mussafgebet. Außerhalb des Landes Israel wird der Priestersegen nur an Feiertagen gesprochen. An den drei Wallfahrtsfesten versammeln sich viele Juden in Jerusalem an der Klagemauer, wo dieser Segen durch im Judentum anerkannte Priester ausgesprochen bzw. gesungen wird. Jüdische Priester werden von Rabbinern an der Klagemauer aufgerufen zu kommen, um die Juden aus Israel und aus der Diaspora zu segnen. Hunderte von Priestern sind versammelt, die Köpfe mit dem Gebetsschal verhüllt, die Hände nach vorne gestreckt sprechen sie den aaronitischen Segen dem Vorsänger – dem „Chasan“ – nach.
Die Idee der Massensegnung an der Klagemauer stammt von Rabbi Menachem Mendel Gafner. 1970, während des Zermürbungkrieges, habe der Jerusalemer Rabbi auf einer Bank an der Klagemauer gesessen und über die Situation nachgedacht, über Geschichten aus dem Talmud und Texte aus der Bibel. Er erinnerte sich an die Erneuerung der Passafeier unter König Hiskia: „Und die Priester und die Leviten standen auf und segneten das Volk, und ihre Stimme wurde erhört, und ihr Gebet kam in Gottes heilige Wohnung im Himmel“ (2. Chronik 30,27). Im etwa 700 Jahre alten Buch des Rabbi Jehuda HaChasid, dem „Sefer Chasidim“, las er einen Bericht über eine Prozession der Priester um den Ölberg zur Zeit der „Gaonim“. Diese Prozession sollte den Messias näher bringen.
Freunde von Rabbi Gafner und einige Rabbiner ließen sich für die Idee der Priestersegnung begeistern. Als Ort kam entweder der Ölberg oder die Klagemauer in Frage. Man entschied sich für die Klagemauer. Die erste Priestersegnung fand im jüdischen Monat Kislev im Jahr 1970 statt. Rabbi Gafner war selbst überrascht, wie viele Priester und Menschen zu der Zeremonie erschienen. Er starb im Jahre 1984 und erlebte 51 Priestersegnungen an der Klagenmauer. In seinem Testament schrieb er: „Der Priestersegen soll mit Gottes Hilfe weitergehen bis unser gerechter Erlöser kommt.“
Dieser Segen aus dem Alten Testament genießt auch unter Christen ein hohes Ansehen. Im 16. Jahrhundert schlug Martin Luther vor, mit diesen Worten im evangelischen Gottesdienst die Gemeinde zu segnen. Das ist bis heute Praxis. Der aaronitische Segen wird in der katholischen und anglikanischen Kirche gesprochen. Christen sollten aber nicht vergessen, wem dieser Segen ursprünglich nach Gottes Willen galt. Das „königliche Priestertum“ sollte weiterhin zuerst das jüdische Volk segnen, ihm allen materiellen und geistlichen Segen und vor allem Frieden wünschen. Die Gemeinde sollte mit diesen Worten nicht sich selbst, sondern die Kinder Israel segnen. Das wird dann wieder auf sie zurückkommen, denn der Herr hatte Abram versprochen: „Ich will segnen, die dich segnen“ (1. Mose 12,3).