ThemenGlaube und Wissen(schaft)

Verteidigung des Glaubens im Reich des Atheismus

Friedrich Engels, Jewgeni Jewtuschenko und Kurt Gödel können mit ihren Aussagen sogar als Argumentationshilfe dienen.

In den 1970er Jahren lebte in der kasachischen Stadt Aktjubinsk Lena Unrau. Ihre Familie gehörte zu einer kleinen Gemeinde in dieser Stadt. Sie selbst war aktiv in der illegalen, aber von Behörden geduldeten Jugendarbeit, die erst 1970 ihren Anfang genommen hat. Lena wollte Krankenschwester werden und wur­de nach bestandenen Eintritts­prü­fun­gen in eine medizinische Fach­­­schule aufgenommen. An ein Stu­dium der Medizin an einer Universität dachten damals die wenigsten jungen Christen, da landesweit Ärzte wie Lehrer unter keinen Umständen sich zum Glauben an Gott bekennen durften.

Im zweiten Unterrichtsjahr be­­auf­tragte die Klassenlehrerin Lena mit einem Aufsatz über das Thema „Was sagen Wissenschaft und Religion über das Weltall“. Den Aufsatz musste sie vor der Klasse vortragen, allerdings war die Klassenlehrerin beim Vortrag aus irgendwelchen Gründen nicht dabei.

Lena Unrau hat sich auf den Vortrag gut vorbereitet. Freilich nutzte sie dazu nicht Schriften aus der Schulbibliothek, sondern zitierte aus einem handgefertigten Album „Lied der Schöpfung“, dass in ihrer christlichen Jugendgruppe damals viel Staunen erregte. Im Gegensatz zu atheistischen Schriften aus der Bibliothek enthielt es jede Menge Auszüge aus Werken von prominenten Wissen­schaftlern und berühmten Schriftstellern, die sich zu Gott bekannten. Der Clou: Alle Zitate stammten aus Büchern, die man sonst völlig legal in großen sowjetischen Bibliotheken auffinden konnte. Der Feind wurde mit seinen eigenen Waffen angegriffen!

Lenas Vortrag vor ihrer Klasse hatte Konsequenzen. Die Sechzehnjährige wurde zusammen mit zwei weiteren jungen Frauen, die zur selben Gemeinde und zur selben Jugendgruppe gehörten, sofort aus der Fachschule hinausgeworfen. Auch die Klassenlehrerin wurde gefeuert.

Lenas Fall war typisch für die Christen in der Sowjetunion der 1970er Jahre. Die Verfolgungen mit Gefängnisstrafen hatten nachgelassen, nicht aber der Druck der ideologischen Propaganda. Die ältere Generation blieb weitgehend immun gegen sie. Ihr Misstrauen gegenüber dem sowjetischen System war gehärtet durch den Verlust der Väter und Großväter in den 1930er Jahren und den Leidensweg durch die Deportation. Ablehnung des Fernsehens und Skepsis gegenüber den Zeitungen und Radio taten das übrige.

In den Mittelpunkt des ideologischen Kampfes rückte die heranwachsende Generation. Ab dem ersten Schuljahr war sie fest in der Hand von kommunistisch geprägten Lehrern. Das Regime sorgte dafür, dass kein einziger von den Pädagogen sich öffentlich zu Gott bekannt hat. An der ideologischen Front gab es nur einen einzigen Feind zu besiegen: die Religion, die als ablebendes Relikt der Vergangenheit galt. Ein Teil der Lehrer nahm bereitwillig den Kampf mit dem Obskurantismus der Kirchgänger auf. Gott sei Dank, sind es lange nicht alle Lehrer gewesen! Die Schlacht wurde auf und mit den Seelen der Kinder von gläubigen Eltern ausgetragen.

Zu den Lieblingswaffen der Lehrer zählte Gehässigkeit. Verhältnismäßig oft wurden Kinder der jüngeren Jahrgänge vor der versammelten Schulklasse öffentlich ausgelacht. Diese Maßnahmen bewirkten aber selten eine Abkehr vom Glauben. Die Kinder der Gläubigen kapselten sich früh von ihren Schulkameraden ab und fanden Zuspruch und viele Gleichgesinnte in den Gemeinden.

In den höheren Jahrgangsstufen wurde die Ablehnung Gottes wissenschaftlich begründet. Im Biologieunterricht wurden Evolution und die direkte Abstammung des Menschen vom Affen gelehrt. In den Chemiestunden wurden die Wunder Jesu sowie die übernatürlichen Erschei­nungen in der orthodoxen Liturgie auf chemische Reaktionen zurückgeführt. So erklärte man die Wandlung von Wasser in Wein zu Kana in Galiläa durch rote Einfärbung von Phenolphtalein durch Wirkung von konzentrierter Säure. Allerdings hatten auf den Glauben von Schülern aus deutschen, also nicht-orthodoxen, Familien, solche Tricks keine Wirkung und dienten eher zu deren Belustigung.

Ernst wurde es bei dem Beweis der Nichtexistenz Gottes. Dieser wurde mit Mitteln des dialektischen Materialismus – der einzig „wahren“ Philosophie – hergebracht. Der dialektische Materialismus, zusammen mit dem historischen, waren Teil des Marxismus-Leninismus. Leugnen der Kompetenz von dessen Vätern Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir I. Lenin war höchst riskant, da solche Dinge sofort politisch gewertet werden konnten.

Genau hier entdeckten die Christen eine Schwachstelle bei ihrem Gegner. Friedrich Engels (1820-1895), eine der drei Ikonen des Marxismus-Leninismus, wuchs in Barmen (heute Wuppertal) auf, einem Mittelpunkt der pietistischen Erweckung. Die Vollständigen Werke von Friedrich Engels, die es in jeder Bibliothek gab, enthielten Briefe des jungen Engels aus der Zeit seiner inneren geistlichen Kämpfe. Der Band 41 auf Seite 5 enthielt sogar folgende Sentenz:

„In dem Glauben, dass das Hauptideal der Lehre Christi, bei seiner Unerreichbarkeit, unvergänglich ist und ewig auf jene Seelen einwirken wird, die nach Frieden durch innere Verbindung mit der Gottheit suchen: wir können keine einzige Minute bezweifeln, dass diese Lehre ein unauslöschlicher Leuchtturm auf dem gewundenen Weg unseres Fortschritts bleibt .“

Es dauerte nicht lange, bis in den Bücherregalen von Jugendleitern und jungen Predigern der berühmte Engels-Band Nr. 41 einen Ehrenplatz gefunden hat. Dass der Schöpfer des Marxismus-Leninis­mus das Christentum nicht konsequent ablehnte, galt als starkes Argument in jeder Diskussion. Eine Auflehnung gegen Engels war auch riskant. Weitere Argumente für die Verteidigung des Glaubens fand man bei einer ganzen Reihe von berühmten Personen aus Wissenschaft und Kultur, die man in der UdSSR trotz herrschender atheistischer Ideologie nicht mit Stillschweigen übergehen konnte. Obwohl sie nicht zu Trägern von rettendem Glauben gehörten, der zur Bekehrung und Wiedergeburt führt, bekannten sie sich zu Gott oder Theismus. Dazu zählten berühmte Personen aus dem 19. Jahrhundert wie der Chirurg Nikolai Pirogow, der Literaturkritiker Wissarion Belinskij, oder der Komponist Petr Tschajkowskij. Es fehlten nicht prominente Physiker von Galileo Galilei bis Albert Einstein. Besonders beliebt war ein Gedicht des sowjetischen Dichterrebellen Jewgeni A. Jewtuschenko (*1932)1, das seinerzeit in der auflagenstärksten Propagandazeitschrift „Ogonjok“ veröffentlicht wurde.

Die in der sowjetischen Presse äußerst seltene Er­­wäh­nung Gottes und der Aufruf zur Umkehr klingen in einer deutschen Übersetzung2 so:

In Zeitnot geraten, wie in ein Netz,
ist der Mensch, atemlos
hetzt er durch sein Leben
und wischt sich den Schweiß.

Ein Fluch des Jahrhunderts ist diese Eile.
Es wird ganz eilig gezecht
und ganz eilig geliebt,
ganz tief sinkt die Seele dabei.

Man martert ganz eilig,
vernichtet ganz eilig,
ganz eilig sind später
Reue und Buße vorbei.

Du aber wenigstens,
halt inne in deiner Welt,
sei‘s, wenn sie schläft,
sei‘s, wenn sie tobt:

Auf halbem Wege wenigstens bleib stehen,
dem richtenden Himmel vertraue dich an,
denke nach, besinne dich,
wenn nicht über Gott,

so doch wenigstens
ganz einfach über dich selbst!
Halt an, bleib’ doch stehen,
der du wie auf fallendem Laub
über Gesichter stampfst und sie nicht ansiehst.

Halt an, bleib’ doch stehen;
du hast Gott vergessen und
schreitest ja über dich selbst hinweg.
Halt an, bleib’ doch stehen … !

Die wenigen jungen christlichen Intellektuellen entdeckten ein Gegengewicht für die Evolutionstheorie in neuen naturwissenschaftlichen Disziplinen. Den Anfang machte die Kybernetik – eine Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschine, Mensch und sozialen Organisationen. Dieser Begriff wurde 1948 von dem US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener vorgeschlagen und stand in der UdSSR zunächst für eine reaktionäre imperialistische Pseudowissenschaft.

Das Umdenken in der UdSSR kam erst, als sich der Rückstand in der Computerisierung bemerkbar machte. Kybernetik wurde als theoretische Grundlage für den Bau von Computern entdeckt und hielt Einzug in die Universitäten und Hochschulen. Das Studium von technischen Disziplinen war an einigen wenigen Orten des riesigen Landes auch für junge Christen offen. Einer dieser wenigen Städte war die sibirische Metropole Nowosibirsk, vier Zeitzonen östlich von Moskau gelegen. Einige quer denkende hochrangige Wissenschaftler wurden aus der Landeshauptstadt entfernt, um hier die Sibirische Abteilung der sowjetischen Akademie der Wissenschaften aufzubauen. Zu ihnen zählten unter anderem einige der besten Mathematiker der Welt, die von Zeit zu Zeit an der örtlichen Universität Vorlesungen hielten. In der Stadt gab es auch einige christliche Gemeinden, deren Jugendliche vereinzelt ein Studium aufnahmen. Sie entschieden sich in der Regel für mathematische und technische Studienrichtungen, was ihre Mittel zur Verteidigung des Glaubens erklärt.

Nun wurden der Evolution Kon­zepte aus der Infor­ma­tions­theo­rie gegenübergestellt. Der Mathematiker Claude Shannon stellte 1948 einen Zusammenhang des Informations­gehalts mit dem Maß der Un­ord­nung, der Entropie, her. Vereinfacht gesagt ging er davon aus, dass Ordnung in einem System nur durch Zuführung von Information aus einer externen Quelle gesteigert werden kann. Auf das Universum übertragen, würde das bedeuten, dass nur eine externe Quelle für Ordnung im Weltall sorgen kann. Das setzt wiederum einen Schöpfergott voraus. Was für viele Gemüter als zu abstrakt galt, klang, in die Sprache von mathematischen Formeln gekleidet, für andere wie Musik aus den himmlischen Sphären!

1925_kurt_gödel

Kurt Gödel um 1925

Besonderen Genuss für christliche Freunde des Abstrakten bereitete der in den 1930er Jahren von dem Österreicher Kurt Gödel3 formulierte sogenannte Zweite Unvollständig­keitssatz. Dieser Satz gehört heute zu den wichtigsten Sätzen der modernen Logik. In den 1970er Jahren gehörte er zur Pflichtlektüre von angehenden Computer­ingenieuren. Die Beweisführung des Satzes ist nicht besonders kompliziert und konnte nach etwa sechs Semestern Mathematik an einer Uni nachvollzogen werden. Mehr noch: Logik galt – im Unterschied zu dem Pflichtfach Marxismus-Leninis­mus – als exakte Wissen­schaft, und Gödels Satz, vorgetragen von einem Mathematikdozent, galt für die wenigen gläubigen Studierenden viel mehr, als das Gerede von Professoren von der philosophischen Fakultät. Gödels Idee, in Alltagsprosa gekleidet, stellte sich als recht simpel dar: In einem formalen System, das in einem Satz von Grundprinzipien begründet ist, gibt es Fragestellungen, die durch vorhandene Grundprinzipien nicht beant­wortet werden können, wozu es weiterer Grundprinzipien bedarf. Mit anderen Worten: Ein wissenschaftliches System, das streng nach den Regeln der Logik aufgebaut ist, kann die Existenz Gottes weder beweisen noch ablehnen. Dazu muss entweder die Existenz oder die Nichtexistenz Gottes als weiteres Grundprinzip, das nicht bewiesen werden kann, explizit vorausgesetzt werden.

Mitte der 1970er Jahre hörte der Autor, damals Student in den ersten Semestern, zum ersten Mal von dem Zweiten Gödelschen Satz von der Unvollständigkeit. Die Erklärung kam von Tamara Melnikowa, die zu dem Zeitpunkt in Nowosibirsk ihr zweites Universitätsstudium in Mathematik absolvierte. Als kurz darauf Gödels Satz auf dem Lehrplan des Autors stand, gab es für ihn keine Zweifel mehr: Gott kann man nicht beweisen.

An Gott muss man – und darf man – glauben!

 


  1. Jewtuschenkos Gedichte wurden schon in der DDR ins Deutsche übersetzt. Heute sind seine Werke in 72 Sprachen verbreitet. 1999 erhielt er in den USA den Walt-Whitman-Literaturpreis. Seine Auto­biographie ist unter dem Titel Wolfspass 2000 im Verlag Volk und Welt erschienen. 

  2. Der vollständige russische Text mit einer englischen Übersetzung von Alec Vagapov findet sich http://www.eng–rus.ru/verses/61-evgeniy-evtushenko/198-the-curse-of-time-is-constant-hustle-yevgeny-yevtushenko 

  3. [einen interessanten Beitrag über Gödels Metaphysik findet man unter http://www.zeit.de/2014/41/kurt-goedel-philosophie-logik; Gödel hatte übrigens auch auf mathematischem Weg die Existenz Gottes bewiesen