ThemenBibelverständnis, Ethische Themen

Was bringt mir ein Theologiestudium? Eine Anfrage von evangelisch.de als Testfall für „Liebe und tu was du willst!“?

„Was bringt eigentlich ein The­ologie­stu­di­­um? Was hat man davon, wenn man sich entscheidet, Theologie zu studieren?“ Das ist nicht die einzige, aber ein völlig berechtigte Frage: „Was bringt das?“ Oder noch direkter: „Was hat mir eigentlich mein Theologiestudium gebracht?“

Bei uns an der FTH hat jeder Neueinsteiger zu Beginn seines ersten Semesters die Gelegenheit, sich kurz vorzustellen, und in ganz wenigen Sätzen zu formulieren, was er sich vom Theologiestudium erwartet.1

Wahrscheinlich erinnern sich die meisten noch daran, was sie damals, in grauer Vorzeit gesagt haben. Häufige Antworten waren: „Ich möchte die Bibel besser kennen lernen“. „Ich möchte Gott besser kennen lernen“. „Ich möchte im Glauben wachsen“. „Ich möchte Gott besser dienen können“.

Das sind alles sehr zentrale und wichtige Anliegen. Für mich war damals auch noch etwas anderes wichtig. Ich hatte alle möglichen (und unmöglichen) mehr oder weniger theologischen Fragen. Zum Teil aus dem Religionsunterricht. Und ich wollte meine eigenen theologischen Fragen besser verstehen lernen. Und ich wollte theologische Fragen auch beantworten lernen.

Theologische Fragen stellen sich ja bei allen möglichen Gelegenheiten ein. Nicht nur im Religionsunterricht. Manchmal entstehen die Fragen auch beim eigenen Bibellesen oder Nachdenken oder durch bestimmte Erfahrungen, die wir machen. Theologische Fragen ergeben sich auch durch Gespräche mit Freunden (oder sogar mit Feinden), mit Verwandten oder Nachbarn. Ge­legentlich schwingt dabei eine unterschwellige Erwartung mit: „Du bist ja jetzt der Experte. Du studierst ja schon im 3. Semester Theologie und stehst kurz davor, die letzten offenen Fragen, die vielleicht noch geblieben sind, definitiv zu beantworten. Was sagst du dazu?“

Viele von uns erleben in ihrem Theologiestudium allerdings, dass die Zahl der Fragen sich nicht einfach reduziert, sondern manchmal geradezu exponentiell vermehrt. Je mehr man hört und lernt und liest, desto mehr neue Fragen tauchen am Horizont auf. Manchmal vermehren sich die Fragen in rasendem Tempo. Und schnelle Antworten sind nicht immer in Sicht.

Aber die gute Nachricht ist: Wenn man etwas Geduld hat, dann lernt man im Theologiestudium tatsächlich, leichte und manchmal auch schwierige theologische Fragen zu beantworten. Und davon möchte ich heute etwas berichten.

Manchmal kommen theologische Fragen ganz offiziell daher.

1. Das neue Pfarrdienstgesetz und die Frage von evangelisch.de

1.1 www.evangelisch.de

In einem Fall kam eine Frage von einer Redakteurin der Internetplattform der EKD www.evangelisch.de. Sie lautet so:

„Unter Leserinnen und Lesern hat sich auf evangelisch.de eine Debatte über den Stellenwert und den Umgang mit der Bibel als Grundlage des Glaubens entwickelt. Anlass war die Reform des Pfarrerdienstgesetzes und der veränderte Umgang der Landeskirchen mit homosexuellen Paaren im Pfarrhaus. In den Kommentaren zeigt sich die große Bandbreite der Perspektiven und Traditionen – von der wörtlichen Auslegung bis zu liberalen Interpretationen, die auch zeitgeschichtlichen und subjektiven Einflüssen Rechnung tragen. Wir möchten das Thema von zwei Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten“.

„Wir wünschen uns Beiträge von jeweils 5000 bis 6000 Zeichen“, das sind ungefähr drei groß bedruckte DinA4-Seiten. Abgabetermin: „Am besten nächste Woche“. Ich habe ziemlich spontan zugesagt – meinen Beitrag aber nicht in der nächsten Woche, sondern in den nächsten Semesterferien geschrieben. (Diese Verlagerungsstrategie lernt man übrigens auch im Theologiestudium, schneller als viele andere Dinge.)

Als ich dann meinen Beitrag schrieb, habe ich sehr davon profitiert, dass ich in meinem Theologiestudium gelernt habe, nicht immer gleich zu einer schnellen Antwort zu springen, sondern erst einmal sorgfältig die Fragestellung anzuschauen und zu verstehen. Außerdem hatte ich im Studium vieles gelernt, auf das ich bei meinem kurzen Text für die Internetplattform evangelisch.de zurückgreifen konnte.2

1.2 PfDG.EKD: Das neue Pfarrdienstgesetz der EKD

Worum ging es genau? Auf der 3. Tagung der 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 7. bis 10. November 2010 in Hannover war ein „Kirchengesetz zur Regelung des Dienstverhältnisses der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland“ verabschiedet worden – kurz: PfDG.EKD. In diesem Pfarrdienstgesetz heißt es in § 39, Absatz 1 zum Thema „Ehe und Familie“:

„(1) Pfarrerinnen und Pfarrer sind auch in ihrer Lebensführung im familiären Zusammenleben und in ihrer Ehe an die Verpflichtungen aus der Ordination (§ 3 Absatz 2) gebunden. Hierfür sind Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und gegenseitige Verantwortung maß­gebend“.

Das klingt zunächst einmal nicht revolutionär. Zum Gesetzestext gehört aber eine Begründung, die folgendermaßen lautet:

„Der Begriff ‚familiäres Zusammenleben’ ist hingegen bewusst weit gewählt. Er umfasst nicht nur das generationsübergreifende Zusammenleben, sondern jede Form des rechtsverbindlich geord­neten Zusammenlebens von mindestens zwei Menschen, das sich als auf Dauer geschlossene, ­solidarische Einstandsgemeinschaft darstellt und damit den […] inhaltlichen Anforderungen Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und gegenseitige Verantwortung genügt“.

Unter die rechtlich verbindlich geordneten Formen des Zusammenlebens fallen ausdrücklich auch „Eingetragene Lebenspartnerschaf­ten“ zwischen Men­schen gleichen Ge­schlechts. Mit anderen Worten: Im Pfarrhaus sollen auch homosexuelle Paare leben dürfen. Allerdings unter einer Bedingung:

„Es verbieten sich Treulosigkeit und Verantwortungslosigkeit in persönlichen Beziehungen einer Pfarrerin oder eines Pfarrers. Verstöße gegen die Dienstpflicht zu einem Zusammenleben in Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und gegenseitiger Verantwortung, insbesondere außereheliche Beziehungen … können daher auch eine Amtspflichtverletzung darstellen“.

Die Pfarrerinnen und Pfarrer werden also zu echter christlicher Liebe angehalten. Denn Verlässlichkeit und Ver­bindlichkeit sind Funktionen der Liebe. Andere Bedingungen werden nicht gestellt.

Das erinnerte mich an einen Satz, den ich schon vor meinem Theologiestudium öfter gehört und zitiert hatte: „Liebe und dann tu was du willst“. Ich hatte diesen Satz schon immer für besonders beeindruckend gehalten, aber auch für ein bisschen gefährlich. Im Theologiestudium habe ich dann gelernt, dass dieser geflügelte Satz vom Kirchenvater Augustinus stammt, einem der größten und bedeutendsten Theologen, die es je gegeben hat, mindestens so bedeutend wie Martin Luther und Karl Barth. Dazu gleich mehr.

1.3 Der offene Brief der Altbischöfe

Vorher ist noch wichtig, dass ungefähr zwei Monate, nachdem das neue Pfarrdienstgesetz der EKD in Kraft getreten war, am 13. Januar 2011, acht Altbischöfe einen offenen Brief veröffentlicht haben, in dem Sie sich nachdrücklich gegen das Zusammenleben homosexueller Paare in Pfarrhäusern aussprachen.

Initiiert wurde der offene Brief von Ulrich Wilckens, dessen dreibändigen Kommentar zum Römerbrief ich mir schon im Theologiestudium gekauft hatte. Und zu den acht Altbischöfen gehört auch der evangelikale Theologe Gerhard Maier.

Die Altbischöfe forderten alle Mitglieder der Synode der EKD auf, nur dem § 39 zuzustimmen, in dem vom „familiären Zusammenleben“ die Rede ist, und nicht der dazu gegebenen Begründung, in der dazu auch homosexuelle Lebensgemeinschaften gerechnet werden. Die Bischöfe warnen vor „Um- und Zurechtdeutungen“ der Heiligen Schrift und schreiben:3

„… Es geht dabei im Grunde um nichts Geringeres als um die Frage, ob evangelische Kirchen darauf bestehen, dass die Heilige Schrift die alleinige Grundlage für den Glauben und das Leben ihrer Mitglieder und für den Dienst und die Lebensführung ihrer ordinierten Pfarrerinnen und Pfarrer bleibt, oder ob eine Landeskirche nach der anderen eine Angleichung an die in der Gesellschaft üblich gewordenen Lebensformen für so wichtig halten, dass sie dafür die Orientierung an der Heiligen Schrift aufgeben bzw. aufweichen …“.

Zu dieser Debatte wollte evangelisch.de einen Beitrag haben: Wie argumentieren Evangelikale in einer solchen Frage? Nehmen sie die ganze Bibel wörtlich? Und haben sie vielleicht Probleme mit dem großen Kirchenlehrer Augustin und seiner Liebesethik?

Als ich mich daran machte, meinen Beitrag für die Internetplattform zu schreiben, fiel mir schnell auf, wie sehr ich bei jedem einzelnen Gedankenschritt auf das zurückgriff, was ich einmal 10 Semester lang in meinem Theologiestudium an der FTH (damals FTA) gelernt hatte. Natürlich habe ich vieles davon später noch weitergedacht und ergänzt. Aber die Grundlagen sind während meiner Studienzeit gelegt worden.

Ich fand das damals im Studium alles hoch interessant – und finde das heute immer noch. Aber ehrlich gesagt wusste ich während meines Studiums oft noch nicht so genau, was mir Fächer wie AT-Umwelt und Dogmengeschichte eigentlich bringen sollten? Ich der nächsten Jugendstunde konnte ich damals jedenfalls noch nicht viel damit anfangen, und in der übernächsten Predigt und der überübernächsten Diskussion mit einem nichtchristlichen Verwandten auch nicht.

Im Laufe der Zeit ist mir dann aber immer klarer geworden, dass ich diese Grundlagen trotzdem brauche. Und die Fächer, die ich im Theologiestudium belegt hatte, waren für mich auch unentbehrlich, als ich kürzlich etwas zu § 39 des neuen Pfarrdienstgesetzes schreiben sollte.

2. Die verschiedenen Bausteine für eine theologische Antwort

2.1 Bibelkunde AT

Eines meiner ersten Fächer im Theo­logiestudium war die AT-Bibelkunde. Da lernte man: Zum Thema Homosexualität findet man die direktesten Anweisungen bzw. Verbote im Buch Leviticus: „Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt: ein Gräuel ist es“ (3. Mose 18,22).

„Und wenn ein Mann bei einem Mann liegt, wie man bei einer Frau liegt, dann haben beide einen Gräuel verübt. Sie müssen getötet werden, ihr Blut ist auf ihnen“ (3. Mose 20,13).

Also brauchte ich auf evangelisch.de nur zwei Bibelstellen zitieren, und fertig war der Beitrag! Ganz so einfach war es dann doch nicht, denn ich habe mich daran erinnert, dass ich natürlich auch einmal Dogmengeschichte und Dogmatik gehabt habe. In diesen Fächern ging es auch um die Frage, ob das Gesetz des Mose überhaupt für Christen und die christliche Ethik gültig ist.

2.2 Dogmengeschichte und Dogmatik

Besonders markant hat Martin Luther sich in seiner im August 1525 gehaltenen Predigt „Eine Unterrichtung wie sich die Christen in Mose sollen schicken“ zur Freiheit des Christen vom alttestamentlichen Gesetz geäußert:4

„Das Gesetz Moses geht die Juden an, es bindet uns somit von vornherein nicht mehr“. Außerdem: „Mose ist tot, sein Regiment ist aus gewesen, als Christus kam; seither gilt er nicht“.

Diese Aussagen bezog Luther auf das ganze Gesetz des Mose, auch auf die Zehn Gebote. Und natürlich auch auf das 3. Buch Mose mit seinen beiden Versen über die Homosexualität. Die gelten also gar nicht mehr – jedenfalls nicht unmittelbar und direkt!

Natürlich muss sich die Dogmatik immer biblisch rückversichern, ob sie auch korrekte Aussagen macht. Dabei zeigt sich in diesem Fall aber schnell: Dass das Gesetz des Mose für Christen nicht mehr direkt verbindlich ist, steht tatsächlich im Neuen Testament: Die vielen Gebote und Verbote des alttestamentlichen Gesetzes waren für das biblische Volk Israel verbindlich, haben aber aus christlicher Sicht mit dem Kommen des Messias Jesus ihre unmittelbare Gültigkeit verloren.

Dem einstimmigen Zeugnis der Evan­gelien zufolge hat Jesus sich über die Sabbatgebote hinweggesetzt (Mt 12,1-14 par). Er tat dies in dem Bewusstsein, in einer höheren Autorität zu wirken als Mose und eine neue Phase der Heilsgeschichte zu eröffnen, in der das alttestamentliche Gesetz durch das Evangelium überboten wird (Lk 16,16).

Der Apostel Paulus hat das mosaische Gesetz ebenfalls als eine notwendige Phase der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk und der Menschheit angesehen. Diese Phase wurde aber durch das Kommen des Messias abgelöst (Gal 3,19-20.23-26; 4,4-5; 5,1 u. ö.). „Christus ist das Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4). Der alte Bund, zu dem das Gesetz des Mose gehört, wurde mit dem Kommen Christi beendet (Hebr 8,13).

Wieso soll dann das mosaische Gesetz noch dazu dienen können, homosexuelles Zusammenleben zu verbieten – noch dazu, wenn es von christlicher Nächstenliebe bestimmt wird?

Auf evangelisch.de hat Jürgen Ebach, Professor für Altes Testament in Bochum, in seinem Beitrag genau so argumentiert:

„Es gibt eine Fülle biblischer Gesetze, deren Einhaltung in einer evangelischen Kirche auch von Biblizisten nicht eingeklagt wird.

Ich denke an die Reinheitsvorschriften etwa im 3. Mosebuch. Was beispielsweise darf man essen und was nicht? Dieses Thema nimmt in der ‚Schrift‘ sehr viel mehr Raum ein als die Bemerkungen über homosexuelle Praktik.

Mit derselben Begründung, es sei Gott ein Gräuel, wird dort vieles ins Unrecht gesetzt, was heute niemand einer Pfarrerin oder einem Pfarrer verübelte. Wären die entsprechenden Priestergesetze für sie verbindlich, dürften sie weder sich den Bart stutzen, noch Schweinefleisch essen, noch an Beerdigungen teilnehmen und körperbehindert dürften sie auch nicht sein. Denn all das ist ebenso ein Gräuel, wie wenn ein Mann bei einem Mann wie bei einer Frau liegt. Warum soll das eine gelten und das andere nicht? …

Warum sagen die Altbischöfe nicht mit eben derselben Klarheit, Menschen, die ein nicht durchgebratenes Steak oder gar Blutwurst essen, dürfe es im Pfarrhaus ebenso wenig geben wie homosexuell Lebende?“

Also ist alles nicht ganz so einfach, wie man auf den ersten Blick denken könnte. Woran soll man sich denn dann als Christ halten, wenn nicht an das Gesetz des Mose? Eine Antwort kann man beim Kirchenvater Augustinus bekommen, über den ich als Student ein ganzes Seminar besucht habe.

2.3 Augustinus-Seminar

Augustinus hat im Jahr 415 n. Chr. in seiner Auslegung von 1 Joh 4 betont, dass die menschlichen Taten danach beurteilt werden müssen, ob sie aus Liebe geschehen. Daraus folgerte er: „Liebe und tu was du willst“. Denn der Wurzel der Liebe könne nur Gutes entspringen.5 Auch diese klassische Aussage ist ganz biblisch.

Wer im Neuen Testament nach einem ethischen Maßstab sucht, der an die Stelle des mosaischen Gesetzes tritt, stößt schnell auf das Liebesgebot. Die zahlreichen alttestamentlichen Gesetze, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln sollten, werden von Jesus in der Bergpredigt in einem einzigen Gebot zusammengefasst: „Alles, was euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12; vgl. 22,40).

Nach Paulus gilt für die christliche Ethik die Regel: „Seid niemandem irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt“. Die zwischenmenschlichen Gebote der sogenannten zweiten Tafel des Dekalogs lassen sich durch eine einzige ethische Zen­tralanweisung zusammenfassen, die unter den zahlreichen alttestamentlichen Einzelgeboten nur eine relativ untergeordnete Rolle gespielt hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18). Anders gesagt: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“ (Röm 13,8-13). Dieses Liebesgebot bezeichnet Paulus als das „Gesetz Christi“ (Gal 6,2; vgl. 5,14). Wer sich konsequent an dieses eine christliche Zentralgebot hält, braucht sich um die vielen Einzelgesetze des Pentateuch nicht mehr zu kümmern.

Also tatsächlich „lieben und dann tun was man will“? Dann wäre es also richtig, dass im neuen Pfarrdienstgesetz homosexuelle Partnerschaften gutgeheißen werden, sofern sie liebevoll gestaltet werden, in Treue und Verbindlichkeit.

An dieser Stelle meiner Überlegungen wurde wichtig, dass das Alte Testament nicht nur aus dem Gesetz des Mose besteht, sondern in 1. Mose 1-11 mit der Urgeschichte einsetzt, die mit der Erschaf­fung des Menschen beginnt. Auch dazu hatte ich in meinem Studium eine Vorlesung belegt, diesmal eine exegetische.

2.4 Exegese Urgeschichte

Am Anfang des Alten Testaments zeigt sich, dass das Liebesgebot nicht die einzige Grundregel ist, an der sich Christen orientieren müssen. Jesus und Paulus haben bei der Begründung ihrer ethischen Anweisungen auch immer wieder auf die Schöpfungsgeschichte zurückgegriffen. Im Liebesgebot sahen sie zwar die Zusammenfas­sung des alttestamentlichen Ge­setzes – aber nicht des gesamten Alten Testaments, das mit der Er­schaf­fung des Menschen beginnt. Das, was in Genesis 1-2 über den Menschen ausgesagt wird, ist weder von Jesus noch von Paulus jemals in Frage gestellt worden.

Im Blick auf das Verhältnis der Geschlechter und die Sexualethik finden sich in der Schöpfungserzählung zwei Grundaussagen: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild … Er schuf sie als Mann und Frau“ (Gen 1,27). Und: „Darum wird ein Mann … seiner Frau anhängen, und sie werden zu einem Fleisch werden“ (Gen 2,24). Anhand dieser Stellen hat Jesus die Frage nach der Ehe, der Ehescheidung und dem Ehebruch beantwortet (Mt 19,1-12 par). Aufgrund dieser beiden Kapitel hat auch Paulus seine sexualethischen Aussagen entwickelt. In der neutestamentlichen Ethik gehören das Liebesgebot und die Schöpfungsordnung zusammen.

Für die christliche Geschlechterethik ist daher beispielsweise die schlichte Beobachtung maßgebend, dass Gott im Paradies nicht einen Adam und zwei Evas geschaffen und zusammengefügt hat, oder eine Eva und zwei Adams. Darum ist eine Mehrehe auch dann nicht zulässig, wenn sie gemäß dem Liebesgebot in allseitigem Einverständnis geschlossen wird und von gegenseitigem Respekt und Treue getragen wird. Gott hat auch nicht zwei Adams zusammengefügt oder zwei Evas, sondern Adam und Eva. Darum entsprechen gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht seinem Willen. In der Heiligen Schrift gilt ein durch Gottes Schöpferwillen markierter Rahmen, den die Geschöpfe auch nicht unter Berufung auf das Liebesgebot übertreten dürfen.

Das hat übrigens auch Augustinus so gesehen. Das „Liebe und dann tu was du willst“ galt für ihn nicht absolut, sonder im Rahmen der Schöpfungsordnung. Darum ist Augustin auch nie auf die Idee gekommen, aus dem Liebesgebot abzuleiten, dass homosexuelle Partnerschaften biblisch sind. Auch für ihn bot die Schöpfungsordnung einen Rahmen, der durch das Liebesgebot niemals übersprungen oder durchbrochen werden darf.

2.5 Römerexegese

Dieser biblischen Logik folgen auch die Aussagen, mit denen Paulus im Römerbrief einen homosexuellen Lebensstil kritisiert. Diese Aussage habe ich als Student in einer Römerexegese näher kennen gelernt:

„Ihre Frauen haben den natürlichen Geschlechtsverkehr in den unnatürlichen verwandelt. Ebenso haben auch die Männer den natürlichen Geschlechtsverkehr mit Frauen verlassen, sind in ihrer Begierde zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst“ (Röm 1,26-27).

Paulus war der Überzeugung, dass homosexuelles Verhalten nicht „natürlich“ ist, sondern von „der Natur“ abweicht.

Den Maßstab für das, was „natürlich“ und „unnatürlich“ ist, entnahm Paulus als frommer Jude natürlich der biblischen Schöpfungsgeschichte, der zufolge Gott im Paradies nicht Adam durch einen zweiten Adam oder Eva durch eine zweite Eva, sondern Adam durch Eva ergänzt hat.

Gegen diese klassische christliche Deutung von Röm 1 wird manchmal eingewandt, Paulus habe sich nur gegen homosexuelle Handlungen heterosexuell veranlagter Personen ausgesprochen. Den homosexuellen Lebensstil homosexuell Veranlagter habe er dagegen implizit akzeptiert. Dieses Argument scheitert daran, dass Paulus seine Position schöpfungstheologisch begründet hat. Nach Paulus hat jeder Mensch unabhängig von seiner sexuellen Veranlagung zu akzeptieren, dass der Schöpfer nur Frau und Mann für einander bestimmt hat.

In meinem Theologiestudium war es dann noch wichtig, dass sich manche Themen und Argumente in verschiedenen Vorlesungen und Seminaren aus verschiedenen Perspektiven wiederholt haben.

2.6 Ethik

So bin ich als Student auch dem systematischen Theologen Emil Brunner begegnet, einem etwas weniger bekannten Mitstreiter und Antipoden des großen Karl Barth. (Für den Theologiestudenten hat Brunner übrigens den unschätzbaren Vorteil, dass er sich wesentlich kürzer ausdrücken konnte als sein berühmterer Kollege). Ich habe Brunners Dogmatik allerdings erst lange nach meinem Theologiestudium ganz gelesen (und sehr davon profitiert). Und erst im vergangenen Herbst habe ich mir eine neue Brunner-Biographie zu Gemüte geführt.

Brunner hat den Zusammenhang zwischen Liebesgebot und Schöpfungs­ordnung ziemlich genau so bestimmt, wie ich das bisher hier vorgeführt habe. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich mich beim Schreiben meines Gastbeitrags für evangelisch.de an einen Abschnitt in Brunners Dogmatik erinnert habe. Brunner schreibt darin zunächst ausführlich über das Liebesgebot, das den eigentlichen Kern des mosaischen Gesetzes darstellt und auch dessen Ende. Aber er belässt es nicht dabei. Er identifiziert neben dem Liebesgebot noch eine zweite Norm, an die wir uns als Menschen zu halten haben, die Schöpfungsordnung.

Das klassische Beispiel dafür sei die Ehe: Dass man monogam leben soll, ergibt sich nicht einfach aus dem Liebesgebot. Man könnte ja auch versuchen, in einer Mehrehe dauerhaft zusammenzubleiben und verantwortungsbewusst mit einander umzugehen. Dass wir exklusiv nur einen Partner haben sollen, ergibt sich aber eindeutig daraus, wie Gott uns geschaffen hat, nämlich so, „daß eines zu einem, und nicht eines zu vielen gehört“. So haben nach Brunner sowohl Jesus als auch Paulus gedacht.6

Dieselbe Argumentation, die Brun­ner gegen die Mehrehe angeführt hat, gilt auch gegen die homosexuelle Lebenspartnerschaft: Es ist ja richtig, dass wir als Christen an das Liebesgebot gebunden sind. Insoweit ist die Argumentation im neuen Pfarrdienstgesetz völlig im Recht. Aber gleichzeitig sind wir Geschöpfe Gottes, denen Gott durch die Art und Weise, wie er sie gemacht hat, bestimmte Vorgaben mitgegeben hat, eine Schöpfungsordnung, an die wir uns genauso halten sollen.

Im neuen Pfarrdienstgesetz wird die Schöpfungsordnung in der Begründung zu § 39 leider völlig ausgeblendet. Da liegt das theologische Problem.

2.7 Homiletik

Schließlich hatte ich in meinem Theo­logiestudium auch noch das Fach Homiletik, Predigtlehre. Darin haben wir gelernt, dass es beim Predigen erstens wichtig ist, die biblischen Texte sorgfältig zu studieren und auszulegen. Und dass es drittens wichtig ist, die biblischen Aussagen möglichst praktisch auf die heutigen Hörer und ihre gegenwärtige Situation anzuwenden.

Wir haben aber auch gelernt, dass zweitens viel davon abhängt, dass man das, was man zu sagen hat, möglichst gut illustriert, besonders, wenn es um ziemlich abstrakte Sachverhalte geht. Denn Bilder sind wesentlich leichter verständlich als abstrakte Aussagen. Und Bilder bleiben auch viel besser hängen als abstrakte Sätze. Darum hat auch Jesus vieles in Gleichnisgeschichten transportiert.

Zum Schluss also ein Vergleich, den ich mir einmal für eine Paulusvorlesung überlegt habe: Mit der christlichen Ethik ist es wie mit einem Kreisverkehr. Das alttestamentliche Gesetz funktionierte wie eine Ampelkreuzung. Man wusste ganz genau wann man zu halten hatte und wann man fahren durfte. In der neutestamentlichen Ethik wird die Ampelkreuzung durch einen Kreisverkehr ersetzt. Jetzt bekommt der Einzelne viel mehr Verantwortung. Er muss selbst darauf achten, dass er nicht mit den anderen Verkehrsteilnehmern zusammenstößt. Diesem neutestamentlichen Autofahrer sagt der Kirchenvater Augustin: „Liebe und dann tu was du willst“. Wenn du auf die anderen Verkehrsteilnehmer Rücksicht nimmst, kannst du durch den Kreisel fahren, wann du willst.

Diese Regel ist natürlich sehr wichtig. Sie ist aber nicht die einzige Verkehrsregel. Jeder Kreisverkehr hat auch seine Grenzen, die ihn von den umliegenden Flächen unterscheidet. Und jeder Kreisverkehr darf nur in einer Richtung befahren werden. Daran muss man sich ebenfalls halten. Dieser Sachverhalt entspricht in etwa der Schöpfungsordnung. Wer das Liebesgebot voll erfüllt und mit niemandem zusammenstößt, aber die Leitplanken durchbricht und die benachbarte Weide als Straße missbraucht, verstößt trotzdem gegen die Straßenverkehrsordnung.

Natürlich hat auch dieser Vergleich seine Grenzen und ließe sich leicht ad absurdum führen. Aber er verdeutlicht das Problem: Wer mit Augustin sagt „Liebe und dann tu was du willst“, der darf nicht vergessen, dass Augustin diesen Satz im Rahmen der Schöpfungsordnung formuliert hat: „Und er schuf sie als Mann und Frau“.

3. Was hat mir mein Theologiestudium eigentlich gebracht?

Bevor ich Theologie studiert habe, hatte ich auch schon gehört und war davon überzeugt, dass homosexuelle Beziehungen falsch sind. Und ich hätte auch schon sagen können, dass eine gleichgeschlechtliche Beziehung nicht biblisch ist. Aber ich hätte es nicht besonders gut begründen können. Manche Aspekte der Fragestellung hatte ich noch gar nicht richtig gesehen. Und meine Antwort wäre sicher etwas zu kurzschlüssig ausgefallen.

Was hat mir mein Theologiestudium gebracht? Viele ganz verschiedene Dinge, aber unter anderem auch die Fähigkeit, theologische Fragen zu verstehen und möglichst wasserdicht zu beantworten.

Aber habe ich das wirklich alles schon im Studium gelernt? Hätte ich meinen Text für evangelisch.de schon nach meinen 10 Semestern an der FTA schreiben können? Nein, sicher nicht. Aber die Grundlagen wurden in meinem Studium gelegt! Und seither habe ich auf diesen Grundlagen weitergearbeitet. Ohne die Grundlagen aus dem Studium hätte es nichts gegeben, auf das ich danach hätte aufbauen können.

Das hat mir also mein Theologiestudium gebracht: Eine solide theologische Basis, auf der ich danach aufbauen konnte und bis heute aufbaue.

Ich hoffe und gehe davon aus, dass es Ihnen ähnlich ergeht und ergehen wird.


  1. Um einige Fußnoten erweiterter Vortrag, der im Sommersemester 2011 vor Studien­interessenten und Studierenden an der Freien Theologischen Hochschule (FTA) Gießen gehalten wurde. Den Vortragsstil habe ich in der schriftlichen Fassung beibehalten. 

  2. Vgl. http://www.evangelisch.de/themen/religion/biblische-sexualethik-eine-evangelikale-perspektive34119 

  3. Der vollständige Brief findet sich als Originaldokument aus Christ und Welt →hier. Der dokumentierte Text auch auf evangelisch.de →hier

  4. Weimarer Ausgabe XVI 363-393; hier 371 und 373 

  5. Augustinus, Tractatus in epistolam Ioannis ad Parthos 7,8 (PL 35, 2033). 

  6. Emil Brunner, Dogmatik II. Die christliche Lehre von der Schöpfung und Erlösung. Stuttgart 21960, 242-244.