ThemenBibelverständnis, Heilsgeschichte

Die Israel-Frage als Testfall: Wie können wir die prophetischen Texte der Bibel richtig verstehen?

In der Auslegungsgeschichte der Bibel hat sich der „Fall Israel“ immer wieder als eine Schlüsselfrage für das Schriftverständnis und für den Umgang auch mit anderen prophetischen Themen erwiesen: Wird Jesus ein reales 1000-jähriges Reich (Millennium) aufrichten?

Im Mai 2011 feierte der Staat Israel seinen 63. Geburtstag seit der Neugründung 1948. Hat die Existenz dieses Staates eine herausgehobene theologische Be­deutung für uns? Oder handelt es sich nur um eine „normale“ politische Tatsache, die mit Gottes Heilsgeschichte und unserer Auslegung der Bibel nicht direkt zu tun hat? Beide Positionen werden heute von Christen, die sich für bibeltreu halten, vertreten.

In der Auslegungsgeschichte der Bibel hat sich der „Fall Israel“ immer wieder als eine Schlüsselfrage für das Schriftverständnis und für den Umgang auch mit anderen prophetischen Themen erwiesen: Wird Jesus ein reales 1000-jähriges Reich (Millennium) aufrichten? Werden sich die noch ausstehenden Zusagen des AT wörtlich erfüllen? Hat die Gemeinde von Jesus Christus das alte Volk Israel beerbt?

Die Behandlung der causa Israel eignet sich als Fallbeispiel für den Umgang mit prophetischen Texten überhaupt. In der hier erforderlichen Kürze wollen wir exemplarisch bedenken, welche hermeneutischen (die Auslegung betreffenden) Fragen zu klären sind, wenn man die Zukunftsankündigungen der Bibel richtig verstehen will.

1. Die Gegenpole in der Israel-Frage: Beerbung durch die Gemeinde oder reale Zukunftsverheißung für das alte Gottesvolk?

Wir beschränken uns auf den Vergleich der beiden grundsätzlichen Gegenpositionen, ohne an dieser Stelle darauf eingehen zu können, dass es innerhalb der beiden „Lager“ noch weitere Differenzierungen und Varianten gibt.

1.1 Die Beerbungsthese

Die noch ausstehenden Verheißungen für Israel sind auf die Gemeinde von Jesus übergegangen. Dabei werden irdische Zusagen (wie z.B. die Rückkehr ins Land) nicht wörtlich erfüllt, sondern in geistlich-symbolischer Weise auf die Gemeinde des Neuen Testaments übertragen. Diese Position ist auch unter dem Namen Substitutionstheorie bekannt, da sie das ethnische Volk Israel durch das sinnbildliche „Israel“ (Gemeinde) ersetzt (substituiert). Die im letzten Jahrhundert erfolgte Rückkehr des jüdischen Volkes in das eigene Land hat demnach keinerlei heilsgeschichtliche Bedeutung.

Die Beerbungsthese ist ein wichtiger Baustein im Konzept des Amillennialismus, wonach es kein reales 1000-jähriges Reich (Millennium) geben wird. Was Offenbarung 20 beschreibt, hatte demnach bereits mit dem ersten Kommen von Jesus begonnen und wird bis zu seiner Wiederkunft andauern. Das ist die klassische Position der reformierten (und teilweise auch lutherischen) Theologie.

Dabei verschwimmen nahezu alle Unterschiede zwischen altem und neuen Testament, der Abrahamsbund gilt für Israel und Gemeinde in gleicher Weise („Bundestheologie“). Nach Calvin war das alttestamentliche Israel bereits die Gemeinde „im Kindesalter“ (Institutio II, II, 2). Das „wahre Israel“ geht auf in der „Gemeinde von Jesus“, es gibt nur eine „Gemeinschaft der Glaubenden, und diese Gemeinschaft existierte vom Anfang der alten Ordnung bis zur gegenwärtigen Zeit und wird auf der Erde weiter existieren bis zum Ende der Welt“.1

1.2 Die wörtliche Erfüllung

Die noch ausstehenden Verheißungen für das ethnische Volk Israel werden sich in der Zukunft wörtlich erfüllen. Dazu gehören die Bekehrung des Überrestes („ganz Israel“, Römer 11,26) zum Messias im Zusammenhang mit der Wiederkunft von Jesus und die dann unbedrängte Existenz im eigenen Land („Wiederherstellung Is­raels“). Insofern gehört die Rückkehr des säkularen Volkes Israel im Gefolge der zweiten Weltkrieges zur Erfüllung des göttlichen Planes. Sie schafft die Voraussetzungen für die künftigen Ereignisse von Sacharja 12-14.

Im Rahmen dieser Sicht erwarten wir eine wörtliche Erfüllung der Verheißung des 1000-jährigen Reiches, zu dessen Aufrichtung der HERR wiederkommen wird. Das ist die Position des sog. Praemillennialismus (Jesus kommt vor – prae – der Errichtung des realen Millenniums zurück). Sie wurde in Deutschland vor allem unter dem Begriff des Dispensationalismus bekannt.2 Aller­dings sollte man sich in der Diskussion nicht auf „Etiketten“ verlassen, da es den einen Dispensationalismus als geschlossenes Konzept nicht gibt, sondern verschiedene Ausprägungen, die sich um einen gemeinsamen Kern herum gebildet haben.3 Es passiert immer wieder, dass Gegner der wörtlichen Erfüllung die Karikatur eines extremen Dispensationalismus zeichnen. Dann entsteht der Eindruck: Jeder, der die Wiederherstellung Israels im eigenen Land und ein reales Millennium erwartet, müsse damit zugleich bestimmte dispensationalistische Sonderlehren (z.B. die Bergpredigt gelte nur für das 1000­-jährige Reich…) bejahen. Das ist definitiv nicht der Fall!

Damit haben wir ein Zwischen­ergebnis: Die Positionen a und b schließen einander gegenseitig aus und fordern zu einer Entscheidung heraus. Woran kann sich diese orientieren?

2. Das reformatorische Schriftverständnis: Rückruf zum Wortsinn der Bibel

Es war ein Kernanliegen der Reformatoren, die klare Stimme des Wortes Gottes wieder zu Gehör zu bringen (claritas scripturae). Dazu mussten sie der Willkür entgegentreten, die sich schon in den frühen Jahrhunderten der Kirchengeschichte in der Auslegungspraxis breitgemacht hatte. Anstatt die wörtliche Bedeutung der Texte als maßgeblich zu akzeptieren, suchte man nach einem „mehrfachen Schriftsinn“. Damit war allen möglichen Allegorisierungen (Verbildlichungen), Ver­geistigungen und Umdeutungen Tür und Tor geöffnet. Dies führte zur Veränderung biblischer Wahrheiten, welche Gott durch die Schreiber der Bibel offenbart hatte.

Zu den Protagonisten solcher „Spi­ritualisierung“ zählte der Kirchen­vater Origenes (185-254), den Luther dafür später zurecht hart kritisiert hat. Gegen Willkür und Allegorisierung setzten die Reformatoren ihre zentrale Forderung: Es habe der einfache Schriftsinn zu gelten, der „buchstäbliche“ Sinn, eben der „Literalsinn“ (Wortsinn). Danach sind die biblischen Texte möglichst so auszulegen, wie ihre Verfasser sie ursprünglich gemeint haben, und das wiederum ist aus Grammatik, Sprachgebrauch und unter Beachtung des Zu­sammen­hangs (Kontext) zu erheben.

3. Das Israel-Verständnis der Reformatoren

Angesichts dieser Voraussetzung ist es umso erstaunlicher, dass die maßgeblichen Reformatoren in ihrem Umgang mit der Israel-Frage gerade nicht an der wörtlichen Bedeutung der Bibeltexte festgehalten haben. Während Luther noch in seiner frühen Römerbriefvorlesung (1515/16) davon ausging, dass sich am Ende der Zeit ein Großteil des jüdischen Volkes als ethnischer „Überrest“ (also als nationales Kollektiv) zu Jesus bekehren würde, rückte er später von dieser Auslegung ab. Auch Calvin deutete Röm 11,25f. – entgegen dem Literalsinn und Kontext – als Gemeinschaft von Juden und Heiden, die im Verlauf der ganzen Kirchengeschichte zum Glauben an Jesus Christus kommen würden. Das entsprach seinem Verständnis der einen Gemeinde „von Anbeginn der Welt bis ans Ende“ (vgl. Heidelberger Katechismus, Frage 54).

Wie konnte es zu dieser „Enteignung“ Israels, zur Übertragung seiner speziellen Verheißungen auf die Gemeinde kommen? Sicher gehörten die Endzeitfragen nicht zu jenen Themen, denen die Reformatoren ihre größte Aufmerksamkeit widmeten. Die entscheidenden theologischen Schlachten wurden damals auf anderen Feldern geschlagen, vor allem im Bereich des Erlösungsverständnisses und damit der Auseinandersetzung um die Rechtfertigungslehre.

In der Eschatologie blieben die Refor­matoren weitgehend jener Position verhaftet, die man bei dem Kirchenvater Augustin (354-430) vorgefunden hatte. Aber schon vor ihm, bereits im zweiten Jahrhundert hatte die frühe Kirche damit begonnen, sich selbst als einzigen Erben der Israel-Verheißungen zu verstehen (Barnabasbrief, Justin der Märtyrer). Origenes sorgte durch seine allegorische Methode für das Handwerkszeug, mit dem die Israel-Passagen der Bibel auf die Gemeinde übertragen werden konnten. Später hat die Römisch-Katholische Kirche ihre Machtfülle und vermeintliche Erwählung mit allen denkbaren Mitteln verteidigt. Sie hatte schon gar kein Interesse daran, die inzwischen kirchlich vereinnahmten Israel-Verheißungen noch einmal an die ursprünglichen Adressaten abzutreten. In ihrem gegenwärtigen 1000-­jährigen Reich (Amillennialismus!) herrschte Christus schon längst durch das Papsttum.

Wenigstens in der Millenniums-Frage hatte die frühe Kirche in den ersten drei Jahrhunderten noch die biblische Substanz zu wahren und an einem künftigen Reich festzuhalten versucht. Spätestens mit Augustin war aber auch hier die Abkehr vom Wortsinn (Literalsinn) zur bestimmenden kirchlichen Position geworden. Und die Reformatoren hatten -mehr als 1000 Jahre nach Augustin -offensichtlich weder die Zeit noch die entsprechende Einsicht, um an diesen Punkten die Geltung ihres reformatorischen Schriftprinzips durchzusetzen. Wer sich heute konsequent auf die Reformation berufen will, muß deshalb in der Israel-Frage entschlossen über die Reformatoren hinausgehen und zum Literalsinn vordringen. Sonst bleibt er in einem traditionalistischen Konfessionalismus stecken.

4. Der Literalsinn prophetischer Texte

Der Bibelleser steht vor einer klaren Alternative: Bin ich bereit, die Texte für sich selbst sprechen zu lassen – oder lese ich sie durch den Filter eines bestimmten theologischen Systems. Natürlich kann sich kein Ausleger völlig von seinen Vorverständnissen freimachen, wenn er einem schriftlichen Zeugnis begegnet. Und jeder von uns ist geneigt, seine eigene (bisherige) Deutung als jene Möglichkeit zu betrachten, die doch eigentlich jedem anderen ebenso einleuchten müsste.

Dennoch hat Gottes Wort immer wieder seine Kraft bewiesen, sich selbst verständlich zu machen und gegen noch so verfestigte Missdeutungen durchzusetzen.

Machen wir die Probe auf’s Exempel. Das AT verbindet die Herzenserneuerung des Volkes immer wieder mit seiner Rückkehr ins Land. Lesen Sie dazu u.a. Hes 36,24­.28. 33-35; Hes 37,12-26; Amos 9,11-15 (vgl. Jer 16,15; 23,8; 34,6; 31,8.23-34). Wer diese Texte studiert, findet darin eine klare Zusage des lebendigen Gottes gegenüber seinem auserwählten Volk Israel. Grundlage der Verbindung von Heil und Land ist die Abrahamsverheißung (1 Mo 13,15; 17,6-8 u.a.). Diese ist unkonditional, das heißt bedingungslos gültig und nicht an den Gehorsam Israels gebunden. Wie könnte Gott sie jemals aufheben?

Im Neuen Testament wird diese Zusage an Israel aufgenommen und mit keinem Wort zurückgenommen, auch nicht durch die Betonung der Einheit von Juden und Heiden innerhalb der Gemeinde (Eph 2,11ff; Röm 11,17-24). Und wenn zum Beispiel Jakobus in Apg 15,15-20 die endzeitliche Israel-Verheißung aus Amos 9,11-12 zitiert, behauptet er damit keineswegs, dass sich diese bereits innerhalb der Gemeinde erfüllt habe. Vielmehr zeigt Jakobus mit diesem Zitat, dass Gottes Zukunftspläne für Israel keinen Nachteil für die Heiden bedeuten: Wenn Gott sein Volk in der Zukunft endgültig ins Land einpflanzen wird, dann werden auch die Heiden einen Segen davon haben. Und „dazu passt“ (Apg 15,15), daraus folgt, dass wir auch jetzt schon keinen Grund haben, die sich bekehrenden Heiden aus der Gemeinde auszuschließen oder nur sie als „Christen zweiter Klasse“ zu betrachten.

Es gibt im Neuen Testament keinen Text, der die alttestamentliche Zusage für Israel in Frage stellen würde. Viel­mehr läuft al­les darauf hinaus, dass das Volk künftig durch seine Hinwendung zu Jesus Christus als dem Messias zu einer umfassenden Erfüllung aller Zusagen gelangen wird. Zahlreiche Aussagen (z.B. Mt 19,28; 23,37­39; Lk 21,24; 22,30; Apg 1,6; Röm 11,25-27) bekräftigen die Hoffnung Israels als von Jesus selbst (und dann von Paulus) bestätigt.

Jacob Thiessen hat in seiner Unter­suchung gezeigt, wie gründlich auch die neutestamentlichen Quellen eine letztendliche Wiederherstellung Israels verbürgen (Israel und die Gemeinde, 2008). Und Michael J. Vlach konnte in seiner Dissertation – die leider noch auf einen deutschen Übersetzer wartet – nachweisen: auch dort, wo das NT alttestamentliche Ver­heißungen ergänzt und auf die aktuelle Situation anwendet (z.B. Amos 9,11f. in Apg 15,15 ff.), geschieht das niemals auf eine Weise, welche ihre ursprüngliche, wörtliche Bedeutung rückgängig macht und von Israel wegnimmt.4

Darum lohnt es sich, auch in der Israel-Frage für den Literalsinn zu streiten: Es geht um nicht weniger als die Verheißungstreue des lebendigen Gottes, der seinen Augapfel nicht im Stich lassen wird (Sach 2,12; 5 Mo 32,10). Und es geht um unsere Treue gegenüber dem Wortsinn der Schrift. Wer einmal davon abweicht, um einem theologischen System zu dienen, der steht in der Gefahr, es immer wieder zu tun. Davor behüte uns Gott!

aus Regionale Informationen Nr. 155 der Bekenntnis­bewegung „Kein anderes Evangelium“ Westfalen-Lippe vom September 2011


  1. L. Berkhof, Systematic Theology, 1969, S.571. 

  2. Jeder Dispensationalist ist zugleich Prae­­millennialist. Allerdings gilt der Satz nicht umgekehrt: Es gibt auch Prae­millennialisten, die bestimmte dispensationalistische Positionen nicht teilen. Man unterscheidet deshalb zwischen „dispensationalistischen“ und „historischen“ Praemillennialisten. 

  3. Die Scofield-Bibel dokumentiert den klassischen Dispensationalismus der älteren Generation, ein bekannter Autor wie John Walvoord steht für den revidierten Dispensationalismus, eine weitere Differenzierung bildet (seit etwa 1986) der progressive Dispensationalismus (C.A. Blaising u.a.). 

  4. Michael Vlach, The Church as a Replacement of Israel? An Analysis of Supersessionism, Frankfurt 2009.