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Ohne Strom an Gottes Hand

Gott hat uns in der Bibel auch das Buch der Psalmen mit Gedichten, Liedern und Gebeten gegeben. In ihnen wird die Bewegung des menschlichen Herzen in Anfechtungen und Nöten, unter Verlust, Verlassenheit und Bedrängnis gezeigt. Allerdings ist das menschliche, innere Gespräch dort auch ein Gespräch vor Gott. Es führt zu Gott, es schaut auf Gott und es beschaut den eigenen Zweifel, die Traurigkeit und Verzweiflung im Angesicht Gottes. Deswegen sind die Psalmen ein hervorragendes Instrument Gottes für seine Seelsorge an uns. Wer im finsteren Tal (Psalm 23) wandern muss, kann es mit den Psalmen tun und hier Trost, Wegweisung und innere Klärung finden. Beispielhaft wird das an einigen Psalmen vor dem Hintergrund der Erfahrung von Anfechtung im Leben des Autors gezeigt.

In einer Stadt fällt die gesamte Strom­versorgung aus. Es ist dunkel. Das Handy ohne Akkureserve, stumm. Und dann? Wie kann Leben im 21. Jahrhundert ohne diesen „Lebenssaft“ weitergehen? Menschen aus dem Kriegsgebiet der Ukraine würden vielleicht zur Antwort geben: „Im Luftschutzkeller gab es eine Stromleiste, wo ich das Handy anschliessen konnte.“ Oder: „Dann warfen wir den dieselbetriebenen Notstrom-Generator an.“ Mit anderen Worten: Wir können uns ein Leben ohne Strom und ohne Internet nicht mehr vorstellen. Als es um eine geplante Übernachtung in einer Berghütte ging, warf mein jüngster Sohn ein: „Gibt es dort Internetverbindung?“

Vor einer Weile bog ich persönlich in eine „Tunnel-Etappe“ ein. Ich bewegte mich im Bild gesprochen über Wochen in einer dunklen Einöde. Gehäufte private und berufliche Schwierigkeiten – richtig, es waren mehr als „Herausforderungen“ – hatten zur nächtlichen Schlaflosigkeit und starker Übermüdung geführt. Morgens saß ich oft wie belämmert im Zug zur Arbeit. Die einzige Tat, zu der ich zu dieser Tageszeit fähig war, bestand darin, mit geschlossenen Augen durch das Buch der Psalmen zu hören. Meine Gedanken schweiften ständig ab, so dass ich manche Passagen zehn- bis zwanzigmal anhörte. Ich merkte, wie ich durch die Zusagen getröstet wurde. Die Worte drangen trotz der Müdigkeit zu mir durch. Ich erfuhr den Segen der Wiederholung.

Es kann sein, dass du dich als Leser in einer ähnlichen Etappe befindest. Sie gehören zu unserer irdischen Existenz. Gerne lasse ich dich daran teilhaben, wie mich Gott durch sein Wort durch einen schmerzlichen Prozess der Heiligung führte.

Hindernis: Das softe Wohlstandsevangelium

Bevor ich mich den Lehrstücken aus den Psalmen zuwende, räume ich ein magistrales Wachstumshindernis aus dem Weg. Dies betrifft eine unmerklich abgeänderte Form des Evangeliums in seiner therapeutischen Form. Was ist damit gemeint?

Das therapeutische Evangelium ist so gestrickt, dass es Menschen das gibt, was sie wollen und nicht das verändert, was sie wollen. … Dieses therapeutische Evangelium akzeptiert menschliche Schwachheit und deckt sie zu, versucht die offensichtlichsten Symptome der Not zu verbessern.1

Ich formuliere einmal, welche Botschaften diese veränderte Version des Evangeliums während meiner „Tunnel-Etappe“ ausgesendet hätte:

  • Hanniel, du kannst erst dann zufrieden sein, wenn du dich zu Hause und an der Arbeit ausreichend geliebt fühlst und Mitleid bekommst.
  • Wenn für dich das Gefühl der Bedeutsamkeit nicht da ist, musst du dich gar nicht erst darauf einlassen.
  • Vor allem geht es darum, deine Meinungen und Wünsche durchzusetzen.
  • Alles, was deine Gedanken ablenkt, sei willkommen.

Vielleicht ziehst du jetzt verwundert die Augenbrauen hoch: „So falsch klingt das doch alles nicht.“ Lass mich deshalb die vier Wünsche im Licht des biblischen Evangeliums umformulieren.

  • Ich brauche mehr als alles andere Gottes Barmherzigkeit – sogar mehr als des Gefühl des Geliebt-Werdens.
  • Ich will Weisheit lernen und willentlich Selbstbezogenheit verlernen; das Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit rückt deshalb in den Hintergrund.
  • Es geht weniger um das Einlösen von Wünschen als darum, meine Gefühle zu heiligen. Das bedeutet, die Gefühle an Gottes Vorstellungen neu zu eichen.
  • Nicht die Ablenkung ist das Ziel, sondern die Befreiung von Selbstgerechtigkeit.

Nun kann ich mir vorstellen, dass dieses Zielbild konkretisiert werden muss. Ich berichte deshalb zuerst, wozu mich die morgendliche Beschäftigung mit den Psalmen vor allem geführt hat.

Größere Schau Gottes, gereinigter Blick auf mich selbst

Die Psalmen leiteten mich zum Anschauen Gottes an, damit ich dann einen gereinigten Blick auf mich selbst werfen konnte.

In meiner intensiven Auseinandersetzung mit den 150 Psalmen durchlief ich erneut die Erfahrung, dass die Texte mich auf doppelte Weise zu prägen begannen. Zunächst leiteten sie mich zum Anschauen von Gottes Größe an, damit ich dann einen gereinigten Blick auf mich selbst und meine Erfahrungen werfen konnte.

In diesem ständigen Austausch befinden wir uns als Geschöpfe Gottes. Insofern ist die Aussage „in der Bibel geht es nicht um mich” nicht korrekt. Der dreieinige Gott ist keineswegs auf mich (oder auf die Welt generell) angewiesen. Er ist unabhängig und selbstgenügsam. Ich bin zu seiner Ehre geschaffen worden. Doch als eine Art von „Unterkönig” hat er mich mit der Regierung zumindest über einen winzigen Teil seiner Schöpfung beauftragt (Tipp zum Lesen: Psalm 8).

Eine wirksame Kur gegen eine auf Selbst­optimierung ausgerichtete Lesart der Schrift kommt aus dem Gleichgewicht zwischen dem Blick auf den Schöpfer und Erlöser und das innere Gespräch vor Gott.

Die Psalmen sind zuerst einmal Lehr­stück zu Gott selbst – seinen göttlichen Namen, Eigen­schaf­ten und Werken (Tipp zum Lesen: Psalm 33).

Andererseits beschäftigen sich die Psalmen mit der gesamten Anatomie der menschlichen Seele2 – sprich mit allen Gefühls- und Lebenslagen von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus (Tipp zum Lesen: Psalm 49). Es lässt mich auf meinen wahren Platz zurückfallen, was enorm entlastet.

„Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind.” (Psalm 131,1)

Gott gehört das Mikrofon,3 damit ist mir als Mensch am besten gedient. Das Gleichgewicht durch den wechselseitigen Blick auf den Schöpfer und Erlöser einerseits und dem intensiven inneren Gespräch vor Gott4 ist eine wirksame Kur gegen die auf Selbstoptimierung ausgerichtete horizontale Lesart der Schrift.

Vom ruhigen Wellengang in den Sturm

Rückblickend lässt sich mein Weg in drei Phasen unterteilen. Dies ist keine trennscharfe Unterscheidung, vielmehr eine grobe Etappierung.

Die erste Phase habe ich mit „Erkennen, bekennen, trauern“ überschrieben. Im Spiegel der Psalmen sehe ich darin mehrere tiefgreifende Erfahrungen:

  • Die Realität der Sünde und die Möglichkeit der (fortdauernden) Buße: Ich wurde mit eigener Sünde konfrontiert; statt Verzweiflung erfuhr ich den Segen fortdauernder Buße.
  • Die Überforderung im Licht neuer Erkenntnisse: Ehr­licher­weise war diese Phase ebenso von ständiger Über­forderung gekennzeichnet.
  • Die Momente des tiefen Schmerzes: Schmerz ist eine menschliche Reaktion; ja, es fanden sich darin Momente des Selbstmitleids. Doch die Reaktion ging darüber hinaus.

Die zweite Phase fasse ich mit „Leid im Innen und im Außen“ zusammen.

  • Durchwachte Nächte: Die Schlaflosigkeit ist Ausdruck des Leids. Das Innere scheint kaum mehr zur Ruhe zu kommen.
  • Der Schmerz der Einsamkeit und des Unverstandenseins: Der Mensch fühlt sich in seinem Schmerz zunächst allein. Für andere Menschen ist es schwierig bis unmöglich, zu den eigenen Empfindungen durchzudringen.

Gott sei Dank endet die verändernde Kraft der Leiderfahrung nicht an diesem Punkt. So wie nach dem Regen die Sonne allmählich durch den Nebel dringt, so drang mit der Zeit die Freude wieder durch.

  • Zunächst gilt es auszuhalten oder – im biblischen Wortlaut – darunter zu bleiben.
  • Die zweite große Versuchung, die den Nebel länger als nötig bleiben lässt, ist die Gefahr des Vergleichens. Als diese weg war, tauchte die Freude vollends wieder auf.

Anstelle einer ausführlichen Beschreibung der sieben Aspekte in den drei Phasen habe ich eine Anleitung mit mehreren Elementen zum Bedenken, Beten und Austauschen mit anderen erstellt. Dabei steht das wiederholte langsame Lesen von Psalmen im Vordergrund.

  • 1. Element: Lesen der Psalmen. Lies diese Texte langsam, mehrmals, zu unterschiedlichen Tageszeiten. Achte besonders auf Stellen, an denen du anstößt. Diese können besonders fruchtbar werden.
  • 2. Element: Die Bibel ist keine Anleitung zum Abtrennen von Gefühlen. Sie bietet Raum zum Klagen, allerdings – wie erwähnt – nicht als Selbstmitleid, sondern im Bekennen.
  • 3. Element: Selbst die dunkelsten Momente können Sonnenstrahlen der Freude enthalten.
  • 4. Element: Bedenke zweitklassige Alternativen, die dich nicht weiterbringen werden.
  • 5. Element: Daraus ergeben sich Fragen an mich selbst.
  • 6. Element: Kurze Zitate regen zum weiteren Nachdenken an.

Phase I: Erkennen, bekennen, trauern

Der Realität der Sünde und die Möglichkeit der (fortdauernden) Buße

Texte zum Bedenken: Psalm 6 [Bußpsalm vgl. auch 32, 38, 51, 102, 130, 143]; ergänzend Psalm 25 [Sündenerkenntnis und Wegweisung]

Klage

  • Anhaltende Bitte: „Verfehlungen — wer erkennt sie? Sprich mich los von denen, die verborgen sind!“ (19,13)
  • Tiefes Erschrecken: „Ich verschmachte… Meine Seele ist sehr erschrocken…“ (6,3+4)
  • Erkenntnis realer Schuld: „Um deines Namens willen, o Herr, vergib meine Schuld; denn sie ist groß!“ (25,11)
  • Ahnungsvolle Zuversicht: „Der Herr ist gut und gerecht, darum weist er die Sünder auf den Weg.“ (25,8)

Gotteslob

  • Berechtigter Zorn und Strafe (6,1)
  • Völlige Abhängigkeit von seiner Gnade/Hilfe (6,3+5)
  • Gewissheit der Erhörung (6,10; vgl. 13,2-3.6 vierfaches „Wie lange?“ + „Ich aber ver­traue!“)

Zweitklassige Alternativen

  • Betäubung als intensivierte Ablenkung: Virtuell, übermässiges Essen, Alkohol/Medikamente
  • Selbstbestrafung
  • Wut gegen andere: „Erzürne dich nicht über die Bösen…“ (37,1-4)

An-Frage

  • Inwiefern ist meine Sündenerkenntnis über die Zeit gewachsen?
  • Wie unterscheide ich zwischen Schuldgefühlen und echter Schuld vor Gott?

Weiterdenken: Verkrümmung

„(Zur Buße) gehört, dass wir die Sünden herzlich erkennen, vor Gott und in gewissen Fällen auch vor Menschen bekennen, bereuen, hassen und lassen und im Glauben an Jesus Christus in einem neuen Leben wandeln.“ (Martin Luther, Großer Katechismus)

„Unsere Natur ist durch die Schuld der ersten Sünde so tief auf sich selbst hin verkrümmt, daß sie nicht nur die besten Gaben Gottes an sich reißt und genießt, ja auch Gott selbst dazu gebraucht, jene Gaben zu erlangen, sondern das auch nicht einmal merkt, daß sie gottwidrig, verkrümmt und verkehrt alles […] nur um ihrer selbst willen sucht.“ (Martin Luther: Scholion zu Röm 5,4 WA 56, 304, 25–29)

Die Überforderung im Licht neuer Erkenntnisse

Text zum Bedenken: Psalm 88 [Im Tauchgang]

Klage

  • „Es ist nichts Unversehrtes an meinem Fleisch vor deinem Zorn, nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. Denn meine Verschuldungen gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie, zu schwer für mich.“ (38,4+5)
  • „Als ich es verschwieg, da verfielen meine Gebeine.“ (32,3)
  • „Meine Seele ist gesättigt vom Leiden.“ (88,4)
  • „Du bedrängst mich mit allen deinen Wogen.“ (88,8)
  • „Ich rufe dich, Herr, täglich an, strecke meine Hände aus nach dir.“ (88,10)

Gotteslob

  • „Senke meine Tritte in deine Pfade. “ (17,5)
  • „Sein Zorn währt einen Augenblick, seine Gnade aber lebenslang.“ (30,6)

Zweitklassige Alternativen

  • Sich der Verzweiflung ergeben
  • Abspaltung der Gefühle
  • Suche nach einem (neuen) Guru bzw. Konzept

An-Frage

  • Wie reagiere ich im Angesicht des Überwältigtseins?
  • Weshalb ist es wenig hilfreich, einen Überwältigten mit guten Ratschlägen zu „versorgen“?

Weiterdenken: Dreiklang „Elend – Erlösung – Dankbarkeit“

  • Was musst du wissen, damit du in diesem Trost [nicht mir selbst, sondern Jesus Christus zu gehören] selig leben und sterben kannst?
    • Erstens: Wie groß meine Sünde und Elend ist.
    • Zweitens: Wie ich von allen meinen Sünden und Elend erlöst werde.
    • Drittens: Wie ich Gott für solche Erlösung dankbar sein soll. (Heidelberger Katechismus, Frage und Antwort 2)

Die Momente tiefen Schmerzes5

Text zum Bedenken: Psalm 69 (messianischer Psalm!)

Gotteslob

  • „Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner.“ (24,1)
  • „Du hast auf die Nöte meiner Seele geachtet … und meine Füße in einen weiten Raum gestellt.“ (31,8f)
  • „Es gibt für mich nichts Gutes außer dir.“ (16,2)

Zweitklassige Alternativen

  • Sich selbst oder andere verletzen
  • Pflaster „Kompensation/Trösterli“ (z. B. Anschaffungen)

An-Frage

  • An welche Momente des Schmerzes erinnere ich mich zurück?
  • Habe ich mir einen „Schutzpanzer“ zugelegt, um den Schmerz nicht mehr zu spüren

Weiterdenken: Christentum und Stoizismus

„Weisheit besteht ihrer Ansicht nach darin, den Platz zu akzeptieren, der einem im Universum zugewiesen ist, und in Harmonie mit der Natur zu leben, indem man sich, durch die Ausübung von Tugend und die Zurückweisung von Leidenschaften, um seinen Körper und seine Seele kümmert. Noch in der heutigen Sprache gibt es mit „Ertrage und enthalte dich“ (lat. sustine et abstine) und „Gerate durch nichts aus der Fassung” (nihil mirari) Formulierungen, die diese Weisheit zusammenfassen.“

Phase II: Leiden im Außen und im Innen

Durchwachte Nächte6

Text zum Bedenken: Psalmen 3 und 4

Klage

  • „Ich schwemme mein Bett die ganze Nacht.“ (6,7)
  • „Du hast mein Herz geprüft, mich in der Nacht durchforscht…“ (17,3)
  • „Mein Gott, ich rufe bei Tag, und du antwortest nicht, und auch bei Nacht, und ich habe keine Ruhe.“ (22,3)
  • „O dass ich Flügel hätte wie die Taube; ich würde davonfliegen, bis ich Ruhe fände!“ (55,7)
  • „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken für die Rettung, die von seinem Angesicht kommt!“ (42,6)

Gotteslob

  • „Ich legte mich nieder und schlief; ich bin wieder erwacht, denn der Herr hält mich. Ich fürchte mich nicht vor den Zehntausenden des Volkes, die sich ringsum gegen mich gelagert haben.“ (3,6f)
  • „Du hast mir Freude in mein Herz gegeben, die größer ist als ihre, wenn sie Korn und Most in Fülle haben. Ich werde mich in Frieden niederlegen und schlafen; denn du allein, Herr, läßt mich sicher wohnen. (4,8f)
  • „Am Tag wird der Herr seine Gnade entbieten, und in der Nacht wird sein Lied bei mir sein, ein Gebet zu dem Gott meines Lebens.“ (42,9)

Zweitklassige Alternativen

  • Um die eigenen Gedanken kreisen
  • Die Nacht zum Tag machen
  • Die Angst vor der Angst (dass ich nicht schlafen kann)

An-Frage

  • Bist du schon von Schlaflosigkeit geplagt worden? Was war der Auslöser?
  • Was sagt Schlaflosigkeit womöglich über meine Seele aus?

Weiterdenken7: Angst und rechte Gottesfurcht

„Da die Gesellschaft Gott als das eigentliche Objekt gesunder Furcht verloren hat, wird unsere Kultur zwangsläufig immer neurotischer, immer ängstlicher vor dem Unbekannten – ja, immer ängstlicher vor allem und jedem. Ohne die Fürsorge eines gütigen und väterlichen Gottes bewegen wir uns angesichts der veränderten Moral und Realität wie auf unsicherem Treibsand. Weil wir Gott aus unserer Kultur verdrängt haben, nahmen andere Sorgen – von der eigenen Gesundheit bis zur Gesundheit des Planeten – in unseren Köpfen eine göttliche Vorrangstellung ein. Gute Dinge sind zu grausamen und erbarmungslosen Götzen geworden – und so fühlen wir uns hilfsbedürftig und zerbrechlich. Die Gesellschaft hat ihren sicheren Anker verloren und wird dafür mit freischwebenden Ängsten überflutet.“ (Michael Reeves)

Einsamkeit und Unverstandensein

Text zum Bedenken: Psalmen 55 und 102

Klage

  • „Denn es ist nicht mein Feind, der mich schmäht; das könnte ich ertragen. Nicht mein Hasser tut groß gegen mich; vor dem wollte ich mich verbergen. Aber du bist es, ein Mensch meinesgleichen, mein Freund und mein Vertrauter! (55,13f)
  • „Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.“ (102,8)

Gotteslob

  • „Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend!“ (25,16)
  • „Als dieser Elende rief, hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Nöten.“ (34,7)
  • „Wenn auch mein Vater und meine Mutter mich verlassen, so nimmt doch der Herr mich auf.“ (27,10)

An-Frage

  • Kennst du den Sonntagabend-Koller?
  • Wie drückt sich Einsamkeit bei dir aus?

Weiterdenken: Digitale Welt und Einsamkeit8

  • Aussage einer Jugendlichen, die Bilder einer Party entdeckte, auf die sie nicht eingeladen war: „Mir war, als wäre ich die Einzige, die nicht da war.“
  • Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, erreicht neue Höchststände.
  • Viele Freunde „posten nur ihre Erfolge online, daher merken viele Jugendliche nicht, dass ihren Freunden auch mal etwas misslingt“.
  • Es kann das Gefühl der Angst ausgelöst werden, „wenn man auf die eigene Textnachricht oder Message in den sozialen Medien keine Antwort erhält“.

Phase III: Zur wahren Freude durchdringen

Annehmen, aushalten, darunter bleiben

Text zum Bedenken: Psalm 37 + Klagelieder 3

Gotteslob

  • „Harre auf den Herrn! Sei stark, und dein Herz fasse Mut, und harre auf den Herrn!“ (27,14)
  • „Siehe, das Auge des Herrn achtet auf die, welche ihn fürchten, die auf seine Gnade harren.“ (33,18)
  • „Harre auf den Herrn und bewahre seinen Weg, so wird er dich erhöhen, dass du das Land erbst.“ (37,34)
  • „Angesichts ihrer Macht will ich auf dich harren; denn Gott ist meine sichere Burg.“ (59,10)
  • „Ich aber will beständig harren und noch mehr hinzufügen zu all deinem Ruhm. Mein Mund soll erzählen von deiner Gerechtigkeit, von deinen Hilfserweisen Tag für Tag, die ich nicht zu zählen weiß.“ (71,14f)

Zweitklassige Alternativen

  • Ausweichen, aufbegehren, erstarren
  • Verbissen und verbohrt weiterkämpfen

An-Frage

  • Ausweichen, aufbegehren oder erstarren: Welche Momente kennst du von dir?
  • Was ist der Unterschied zwischen gesunder Hartnäckigkeit und einer blinden Verbissenheit?

Weiterdenken: Beiläufige Willkürlichkeit und ruhelose Ungeduld

„Wir Evangelikale brauchen Hilfe. Wo die Puritaner nach Ordnung, Disziplin, Tiefe und Gründlichkeit riefen, ist unser Gemüt eher bestimmt von beiläufiger Willkürlichkeit und ruheloser Ungeduld. Wir gieren nach Kunststücken, Neuerungen, Unterhaltung; wir haben den Geschmack gründlichen Studiums, demütiger Selbstuntersuchung, diszipliniertem Nachsinnen, und unspektakulärer harter Arbeit in unseren Berufungen und in unseren Gebeten verloren. …Dann ist es so, dass wir es uns beim Lehren des Lebens als Christ zur Gewohnheit gemacht haben, dieses als einen Weg voller aufregender Gefühle und übernatürlicher Eingriffe darzustellen, anstatt als einen Weg rationaler Gerechtigkeit; und bei der Beschäftigung mit den Erlebnissen als Christ halten wir uns andauernd bei Freude, Friede, Glück, Zufriedenheit und Seelenruhe auf, und das ohne einen ausgleichenden Bezug auf die Gott gemäße Unzufriedenheit aus Römer 7, den Glaubenskampf aus Psalm 73, oder auf irgendeine der Bürden der Verantwortung und aus Vorsehung geschehenden Züchtigungen, die das Los eines Kindes Gottes sind. Die spontane Ausgelassenheit des sorglosen Extrovertierten wird dann gleichgesetzt mit einem gesunden Leben als Christ, und ausgelassene Extrovertierte werden in unseren Gemeinden darin bestärkt, selbstzufrieden in Fleischlichkeit zu verharren, während heilige Seelen mit weniger heiterem Temperament fast verrückt werden, weil sie nicht auf die vorgeschriebene Weise fröhlich sein können. …Wir brauchen wirklich Hilfe, und die Tradition der Puritaner kann sie uns geben.“ (Mark Noll)

Weg vom Vergleichen – hin zu wahrer Freude

Text zum Bedenken: Psalm 16 und 73

Klage

  • „Dennoch freuen sie sich, wenn ich wanke, und rotten sich zusammen …“ (35,15)
  • „Ich aber – fast wäre ich gestrauchelt mit meinen Füßen, wie leicht hätte ich einen Fehltritt getan! Denn ich beneidete die Übermütigen, als ich das Wohlergehen der Gottlosen sah.“ (73,2-3)
  • „Das werden die Gerechten sehen und sich fürchten, und sie werden über ihn lachen: „Seht, das ist der Mann, der Gott nicht zu seiner Zuflucht machte, sondern sich auf seinen großen Reichtum verließ und durch seine Habgier mächtig wurde!“ (52,8-9)
  • „Zahlreich werden die Schmerzen derer sein, die einem anderen Gott nacheilen.“ (16,4)

Gotteslob

  • „Aber alle werden sich freuen, die auf dich vertrauen; ewiglich werden sie jubeln, denn du wirst sie beschirmen; und fröhlich werden sein in dir, die deinen Namen lieben!“ (5,12)
  • „Ich will mich freuen und frohlocken in dir, ich will deinem Namen lobsingen, du Höchster!“ (9,3)
  • „Ich will dich erheben, o Herr, denn du hast mich herausgezogen.“ (30,2)
  • „Ja, an ihm wird unser Herz sich freuen, denn wir vertrauen auf seinen heiligen Namen.“ (33,21)

Zweitklassige Alternative

  • Lasst uns essen und trinken, denn morgen sterben wir.

An-Frage

  • Was ist der Unterschied zwischen einem den Umständen geschuldeten Impuls der Befriedigung und einer von Jesus geschenkten Freude?

Weiterdenken: Raus aus dem „Ich gönne mir etwas-Modus“

„Gott will, dass du glücklich bist. Entspanne dich und nimm etwas von dem, was er dir darreicht. Gott ist kein Spaßverderber und Freudenkiller.“ Ich mag den Satz – ich gebe dies offen zu – nicht mehr hören. Weshalb?

Er verstärkt die Heilsbotschaft der Konsumgesellschaft. Diese hämmert uns konstant ein, dass wir uns sofort belohnen müssen. Dies führt zur Betäubung der Wahrnehmung eines Mangels (der wirklich vorhanden ist). Dabei würden wir viel besser der Frage nachgehen, warum wir unzufrieden sind! Wir sollen den Mangel nicht wegreden, sondern in Gottes Licht bringen und dort näher betrachten. Er stabilisiert die Grundunzufriedenheit. Ich bin erschrocken, wie oft in Verkündigung und Seelsorge der Aufruf zur Selbstbelohnung erschallt. Eheabende, Wellnesswochenende, elektronische Gadgets, Einrichtungsgegenstände oder ein neuer Wagen sind in sich nichts Falsches. Doch durch die Sofort-Betäubung werden wir möglicherweise davon abgehalten, unseren fehlgeleiteten Motiven auf die Spur zu kommen. Er bekämpft ein Problem einer Scheinlösung. Wir kennen das gut vom Mechanismus der Sucht: Wer nach einem Stoff verlangt, muss ihn sich wieder zuführen. Das können pornografische Inhalte oder andere Stimulanzen fürs Gehirn (z. B. Baller-Games) ebenso wie Esswaren, Alkohol oder Medikamente sein. Ist das nun nicht etwas überzeichnet? Natürlich zeitigt die Alkoholabhängigkeit viel schlimmere Folgen als ein Belohnungsmechanismus mit elektronischen Gadgets. Doch das Prinzip ist dasselbe.

Er gaukelt eine Lösung „etwas mehr/weniger desselben“ vor. Die verhaltenstherapeutische Verschreibung einer Erhöhung bzw. Reduktion der Dosis lässt den Betreffenden bei sich selbst bleiben. Er hat es im Griff und bestimmt über die Dosierung. Er wird sich auf diese Weise kaum seiner Abhängigkeit von Gott bewusst.


  1. Die Zitate sind alle dem Aufsatz „Das therapeutische Evangelium“ von David Powlison entnommen. (https://www.evangelium21.net/media/929/das-therapeutische-evangelium). Der Autor ist alles andere als ein „Lehnstuhl-Ratgeber“; sein Denken und Handeln ist gesättigt von Leiderfahrungen. Unter anderem kämpfte er seit Studententagen mit einer Angsterkrankung ebenso wie mit Bauch­speicheldrüsenkrebs, dem er schließlich 2019 erlag. Siehe https://hanniel.ch/2019/06/08/in-memorian-ein-grosser-seelsorger-ist-von-uns-gegangen/ (18.07.2024). 

  2. Siehe dazu „Calvin und die Psalmen“, https://www.reformiert-info.de/Calvin_und_die_Psalmen-3864-0-56-7.html (18.04.2024). Ausführlich siehe Johannes Calvin, Die Psalmen, Jazybee (2022), Bände 1+2. 

  3. Siehe https://hanniel.ch/2012/11/06/gebt-gott-das-mikrofon/ (18.04.2024). 

  4. Siehe https://hanniel.ch/2013/03/18/heilsames-selbstgesprach/ (18.04.2024). 

  5. Zur Vertiefung: C. S. Lewis. Über den Schmerz. Meine Buchbesprechung dazu gibt es auf https://hanniel.ch/2017/12/02/buchbesprechung-ueber-den-schmerz/ 

  6. Bereits vor einigen Jahren habe ich dazu ein eBook verfasst. Schlafen (Alltag aus christlicher Weltsicht, Band 4). https://cebooks.de/products/schlafen-alltag-aus-christlicher-weltsicht-band-4?_pos=29&_sid=0370651fb&_ss=r  

  7. Mehr siehe „Wie gehe ich mit Wut und Angst um? Zwei Kinderbücher“. https://hanniel.ch/2022/09/19/rezension-wie-gehe-ich-mit-wut-und-angst-um-zwei-kinderbuecher/ 

  8. Mehr siehe „Smartphone, Einsamkeit und Depression“. https://hanniel.ch/2018/06/11/85881/