ThemenKritik der Bibelkritik

Geschichtsschreibung, Wunder und der christliche Glaube: eine Antwort an Prof. Lindemann

Die tatsächlich feststellbare Qualität der Evangelien spricht nicht für ihre historische Unzuverlässigkeit oder gar gegen die Historizität des Erzählten

Ich nehme mir die Freiheit, die von Prof. Lindemann formulierten 23 Thesen zu thematischen Gruppen zusammenzufassen und in anderer Reihenfolge zu kommentieren. So bleibt der Bezug meiner Antworten auf seine Thesen sichtbar, ohne dass ich mich in meiner argumentativen Bewegungsfreiheit zu sehr eingeengt fühle. Auf einige seiner Thesen (2, 4-6, 10-11, 13, 22) werde ich dabei nicht eingehen, weil ich ihnen zustimme oder ausführlicher zu anderen Punkten Stellung nehmen möchte. Außerdem beziehe ich mich nicht nur auf die meisten der 23 Thesen, sondern auch auf das Interview, das der SPIEGEL mit Prof. Lindemann geführt hat. Denn darin hat Prof. Lindemann sich zu einigen Punkten wesentlich pointierter geäußert als in seinen späteren Diskussionsbeiträgen.

1. Die historische Absicht der Evangelisten (zu These 7, 9, 14 und 23)

In meinem ersten Diskussionsbeitrag hatte ich darauf hingewiesen, dass die neutestamentlichen Evangelien in der Antike von Christen und Nichtchristen praktisch ausnahmslos als Geschichtsbücher gelesen worden sind. Ihr historischer Wahrheitsgehalt wurde anerkannt oder bestritten. Der Gedanke, sie hätten gar nicht beansprucht, geschichtliche Fakten wiederzugeben, lag ihren antiken Lesern fern. Diesen Befund bestreitet Prof. Lindemann nicht. Er behauptet aber, schon diese frühen Leser hätten die Absicht der Evangelienverfasser verkannt (These 7). Den Evangelisten sei es nicht um Fakten gegangen, sondern um die Bezeugung ihres Glaubens (These 9, 14, 23). Diese Deutung der relevanten Aussagen – Prof. Lindemann erwähnt Lk 1,1-4 und Joh 20,30-31 – halte ich für falsch.

Lukas hat die Ereignisse des Lebens Jesu seinen eigenen Angaben zufolge „exakt“ erforscht bzw. aufgezeichnet (Lk 1,3). Das von ihm an dieser Stelle verwendete griechische Adverb wird in antiken Rechts- und Geschichtstexten durchgängig im Sinne von „wirklichkeitsgetreu“ verwendet[1 Der dritte Evangelist hätte mit Sicherheit protestiert, wenn ihm jemand die Absicht abgesprochen hätte, einen Tatsachenbericht über die historischen Ereignisse des Lebens Jesu zu verfassen.

Ähnlich hat sich der vierte Evangelist geäußert, der von sich in der dritten Person spricht: „Der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr“ (Joh 19,35). Johannes wollte nicht seinen Glauben „bezeugen“, sondern Ereignisse , die er gesehen hat. In diesem Sinne bezeichnete er sich explizit als Augenzeugen (vgl. Lk 1,2) der Kreuzigung Jesu einschließlich mancher historischer Details.2 Und er hat ausdrücklich betont, sein Zeugenbericht sei „wahr“, d. h. er stimme mit den historischen Ereignissen überein (vgl. Joh 21,24). Dieser Befund ergibt sich unabhängig von der Frage, welchem Verfasser man das vierte Evangelium zuschreibt. Nach meinem Eindruck beruht Prof. Lindemanns Auffassung, die neutestamentlichen Erzählbücher verfolgten keine historische Intention, auf einer Fehldeutung ihrer ausdrücklichen Zweckangaben.

Ohne jeden Zweifel wollten die Evangelisten ihre Leser allerdings nicht nur über den historischen Verlauf des Lebens Jesu informieren, sondern sie darüber hinaus zum Glauben rufen bzw. im Glauben bestärken. Deutlich hat Johannes diese Absicht gegen Ende seines Buches formuliert:

„Diese (Zeichen) wurden aufgeschrieben, damit ihr glaubt“ (Joh 20,31).

Wie verhalten sich die von den Evangelisten berichteten Geschichtsereignisse und der von ihnen bezweckte Glaube zueinander? Das hat Lukas in seinem Evangelienprolog prägnant auf den Punkt gebracht. Seine historischen Forschungen hat er durchgeführt und aufgezeichnet, „damit du die Zuverlässigkeit der Lehren erkennst, in denen du unterrichtet worden bist“ (Lk 1,4). Der Evangelist rechnete demnach mit Lesern, die bereits mit den wesentlichen Elementen der christlichen Lehre bekannt waren. Diesen wollte er durch die Präsentation seiner historischen Forschungsergebnisse zeigen, dass die christliche Predigt über die Vergebung der Sünden und das ewige Leben aufgrund von Kreuz und Auferstehung Jesu kein theologisches Konstrukt ist, sondern auf einer soliden historischen Basis ruht. Eine Vergewisserung über die Wahrheit der christlichen Botschaft unter Absehung von den historischen Fakten, von denen er in den Versen 1-3 geschrieben hatte, wäre für Lukas demnach undenkbar gewesen. Der Evangelist sprach nicht von einer Glaubensvergewisserung ohne historisches Fundament (so These 7), sondern von der Vergewisserung des Glaubens aufgrund der historischen Angaben der Augenzeugen des Lebens Jesu.

Sicher verfolgen die Evangelisten nicht nur ein historisches Interesse. Aber dass sie ihrem Selbstverständnis nach auch Geschichtsschreiber waren, sollte man nicht bestreiten. In dieser Hinsicht haben die antiken Leser die Intention der neutestamentlichen Schriften besser verstanden als manche modernen. Wer die historiographische Intention der Evangelien bestreitet, bürstet sie gegen den Strich.

2. Die historische Qualität der Evangelien (zu These 8 und 10-12)

Prof. Lindemann ist überzeugt, dass es sich bei den Evangelien nicht um Tatsachenberichte handelt, weil sie weder vollständig noch in chronologischer Ordnung berichten und die Reden Jesu mit unterschiedlichem Worten wiedergeben. Ich halte alle drei Beobachtungen für zutreffend, ziehe aus ihnen aber ganz andere Schlüsse.

Dass Jesus dem Johannesevangelium zufolge mehrfach nach Jerusalem zog, während die Synoptiker nur von der letzten Jerusalemreise Jesu berichten, zeigt, wie unvollständig ihre Erzählungen sind bzw. dass Johannes vollständiger erzählt hat. Die Synoptiker haben sich auf die Hauptbewegung des öffentlichen Wirkens Jesu von Galiläa nach Jerusalem konzentriert und im Dienste dieser Absicht gekürzt und gerafft. Das an sich kann aber nicht belegen, dass die Evangelien historisch unzuverlässig sind (These 12). Denn unvollständig ist jede historische Darstellung. Und kein Historiker dürfte ohne bewusste Kürzungen auskommen. Ob ein gekürzter Bericht zuverlässig ist oder nicht, hängt aber davon ab, ob er die Wirklichkeit verzerrt oder angemessen wiedergibt. Nicht, dass ein Historiker aus dem ihm zugänglichen Material ausgewählt hat, sondern wie er diese Auswahl durchgeführt hat, muss der Maßstab für die Beurteilung der Wahrheit seiner Darstellung sein.

Ich sehe nicht, inwiefern die Synoptiker ihre Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu durch die Auslassung der zahlreichen Festbesuche, die Jesus der Hauptstadt vor seinem Todespassa abgestattet hat, entwertet haben. Problematisch hätte ich es beispielsweise gefunden, wenn sie die letzte Jerusalemreise Jesu zugunsten einer früheren Reise ausgelassen hätten. Eine solche Darstellung wäre dem Wirken und Schicksal Jesu nicht gerecht geworden. Solche Fehler sind den Evangelisten aber nicht unterlaufen.3

Entsprechend verhält es sich mit der Chronologie. Ein Historiker kann sich entscheiden, ob er seinen Stoff streng chronologisch (bzw. in parallelen chronologischen Schnitten) oder mit thematischen Einschüben darstellt. Dieser beiden Möglichkeiten hat sich die antike Historiographie ganz selbstverständlich bedient. Die chronologisch-thematische Darstellungsweise ist nach meinem Eindruck auch der modernen Geschichtsschreibung nicht fremd. Die Synoptiker haben sich offensichtlich entschieden, das Leben Jesu entlang einer einfachen chronologischen Grundlinie (Taufe, Galiläa, Reise, Jerusalem, Passion, Auferstehung) zu erzählen und in diesen schlichten chronologischen Rahmen thematische Blöcke einzufügen. Dabei sind sie teils gemeinsame und teils eigene Wege gegangen. Den Satz, eine nicht streng chronologisch aufgebaute Erzählung könne kein Tatsachenbericht sein (These 8), halte ich im Blick auf jede Art von Geschichtsschreibung für falsch.

Eine dritte Beobachtung betrifft den Wortlaut der Jesusreden. In kaum einer synoptischen Parallelperikope stimmt der griechische Wortlaut der wiedergegebenen Reden zwischen Matthäus, Markus und Lukas zu 100 Prozent überein. Und im Johannesevangelium spricht Jesus in einem anderen Stil und bevorzugt andere Begriffe als bei den Synoptikern. Prof. Lindemann folgert aus diesen unbestreitbaren Beobachtungen, die Evangelisten böten keine historisch zuverlässige Beschreibung des Lebens Jesu (These 10 und 12). Das sehe ich anders. Denn in der Antike wurde die Wiedergabe einer historischen Aussage in direkter Rede nicht nur dann als authentisch betrachtet, wenn sie deren exakten Wortlaut bot. Sie galt auch als wahr, wenn sie nicht den Wortlaut , sondern nur den historischen Inhalt korrekt festhielt.

Die Gültigkeit dieses Prinzips kann man schon im Alten Testament erkennen. Bei der erneuten Wiedergabe eines bereits zitierten Satzes fühlten sich die Erzähler zwar frei, von dessen Wortlaut abzuweichen; an den historischen Inhalt des zitierten Satzes war ein Geschichtsschreiber aber selbstverständlich gebunden (vgl. Gen 24,1-27 mit 24,34-49). Auch in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung galt die Wiedergabe einer Rede erst dann als unauthentisch, wenn deren Inhalt nicht korrekt festgehalten wurde. Auf diesem Hintergrund zitierten die neutestamentlichen Autoren das Alte Testament relativ häufig mehr oder weniger paraphrasierend aus dem Gedächtnis, ohne dass dies ein Zeitgenosse für anstößig gehalten hätte. Abgelehnt wurde nicht das den Originalwortlaut paraphrasierende, sondern nur das den Originalinhalt verfälschende Zitat.

In diesem zeitgeschichtlichen Zusammenhang wird verständlich, warum die Christen in der Zeit der alten Kirche von den Wortlautunterschieden, die die Aussagen Jesu etwa zur Feindesliebe in den synoptischen Parallelen aufweisen (Mt 5,43-48 par Lk 6,27-28.32-36), nicht erschüttert wurden. Im übrigen war man sich bewusst, dass Jesus nicht Griechisch, sondern (meistens) Aramäisch gesprochen hat. Als problematisch hätte man es erst empfunden, wenn Jesus die Feindesliebe im einen Evangelium geboten und einem anderen Evangelium zufolge untersagt hätte.

Auch uns modernen Menschen ist dieses Prinzip in anderen Zusammenhängen vertraut. Die Übersetzung eines Textes in eine andere Sprache halten wir nicht deshalb für falsch, weil sie sich mehr oder weniger weit vom Originalwortlaut entfernt. Ein negatives Urteil fällen wir erst, wenn der Inhalt nicht korrekt transportiert wird. Dass Lukas viele Aussagen Jesu mit etwas anderen Worten wiedergegeben hat als Matthäus, ist daher in meinen Augen noch kein hinreichendes Argument gegen die historische Qualität ihrer Bücher. Ein negatives Urteil über die Authentizität der von den Synoptikern wiedergegeben Reden Jesu müsste vielmehr auf dem Nachweis beruhen, dass ihr Inhalt verfälscht worden ist. Diesen Schluss lässt der synoptische Vergleich jedoch nicht zu.4

Entsprechendes gilt für die Jesusreden im Johannesevangelium. Prof. Lindemann nennt als Beleg für die historischen Defizite des Johannesevangeliums ein Beispiel: Jesus bezeichnet das Heil in den synoptischen Evangelien regelmäßig mit dem Begriff „Reich Gottes“. Im Johannesevangelium spricht er fast ausschließlich vom „ewigen Leben“. Das trifft zu. Aber was folgt daraus? Auch bei den Synoptikern spricht Jesus vom „ewigen Leben“, und zwar im Wechsel mit dem Begriff „Reich Gottes“ (z.B. in Mt 19,16-26 par). Der vierte Evangelist war wahrscheinlich der Meinung, der Begriff „ewiges Leben“ würde von seinen kleinasiatischen Lesern besser verstanden, und hat daher auf das synonyme „Reich Gottes“ verzichtet. Ein Argument gegen die historische Zuverlässigkeit des Johannes (These 12) lässt sich aus diesem Befund nicht ableiten5 Gegen den Wahrheitsgehalt der Reden Jesu bei Johannes müsste man vielmehr nachweisen, dass er mit dem Begriff „ewiges Leben“ die Botschaft Jesu verfälscht hat. Und dieser Nachweis müsste erst noch erbracht werden.

Über das Leben Jesu liegen vier Geschichtsbücher aus dem ersten Jahrhundert vor, deren Darstellungen auf Augenzeugenberichte zurückgehen
Prof. Lindemanns extrem negatives Urteil über den historischen Wert der neutestamentlichen Evangelien ergibt sich in meinen Augen aus einer unsachgemäßen Auswertung weitgehend zutreffender Beobachtungen. Über das Leben Jesu liegen vier Geschichtsbücher aus dem ersten Jahrhundert vor, deren Darstellungen auf Augenzeugenberichte zurückgehen und sich in hohem Maße decken. Diese Wahrnehmung liegt klar vor Augen. Und sie setzt keinerlei weltanschauliche oder gar christliche Vorentscheidung voraus. Eine solche kommt jedoch in der Wunderfrage ins Spiel.

3. Die Bedeutung der urchristlichen Wunder (zu These 16-18)

Prof. Lindemann berührt in seinem zweiten Beitrag auch die Frage, welche Bedeutung die neutestamentlichen Wundergeschichten für den christlichen Glauben haben. In einigen Wundergeschichten wird deutlich, dass Jesus die Krankheit eines Menschen nicht als automatische Folge einer Sünde deutet (These 17). Das steht außer Frage. Im übrigen gehe es in den Evangelien nicht um die Tatsächlichkeit echter Wunder Jesu. Solche Wunder beträfen uns als Leser nicht (These 16). Und solche Wunder seien entbehrlich (These 18).

Dies ist meines Erachtens eine Fehldeutung. Denn die Wunder sind sowohl für das biblische Konzept der Offenbarung als auch für die neutestamentliche Christologie unentbehrlich.

Es gab in biblischer Zeit Propheten, die keine Wunder taten und mit ihrer Botschaft trotzdem auf eine enorme Resonanz stießen. Zu ihnen gehörte Johannes der Täufer (Joh 10,41). Wurde das Recht eines Propheten, im Namen Gottes zu sprechen, aber in Frage gestellt, galten Wunder als unentbehrlich. Wunder dienten den Mosebüchern zufolge dazu, ihrer Täter als Boten Gottes zu legitimieren. Ein wahrer Prophet musste sich laut 5 Mose 13,2-3 und 18,21-22 durch übernatürliches Wissen oder übernatürliche Kraft ausweisen.

Von dem, der den Anspruch erhob, Worte Gottes mitzuteilen, wurde erwartet, dass er Wunder tun konnte. So erhielt Mose von Gott die Macht, vor dem Pharao überlegene Wunder zu tun, um zu belegen, dass er in Jahwes Namen auftrat (Ex 4,5). Außerdem durften die Aussagen eines Propheten nicht der bereits empfangenen Offenbarung widersprechen. Denn es gibt nach biblischer Überzeugung auch Wundertäter, die ihre übernatürlichen Fähigkeiten nicht aus göttlicher Quelle schöpfen. Wunder trugen daher auch maßgeblich zur Unterscheidung zwischen wahren und falschen Propheten bei. Den Elia erwies in seinem Kampf mit den Baalspropheten auf dem Karmel ein Wunder als den wahren Propheten des wahren Gottes (1Kö 18,36).

In entsprechender Weise wurde die Predigttätigkeit der Apostel den Evangelien und der Apostelgeschichte zufolge durch die von ihnen vollbrachten Wunder legitimiert. Paulus selbst bezog sich mehrfach auf die Wunderzeichen, die ihn als Apostel auswiesen (Röm 15,18-19; 2 Kor 12,12). Die Worte eines so ausgewiesenen Apostels oder Propheten galten als Worte Gottes (Gal 1,11-12; 1Thes 2,13). Offenbarung Gottes war den biblischen Schriften zufolge ohne einen Wunderbeweis nicht sicher identifizierbar. Auch wenn man es ablehnt, sollte man nicht bestreiten, dass die biblischen Autoren ein solches Offenbarungskonzept vertreten haben, in dem die Wunder einen konstitutiven Platz einnehmen.

Nicht nur der Offenbarungsanspruch der alt- und neutestamentlichen Propheten, sondern auch die Christologie der Evangelien ruht auf der Überzeugung, dass Jesus Wunder getan hat: Jesus von Nazareth hat sich seinen Zeitgenossen gegenüber durch Wundertaten ausgewiesen (Apg 2,22), und zwar sowohl als der in den Schriften verheißene Messias als auch als der einzigartige Sohn Gottes. Der Täufer ließ Jesus aus dem Gefängnis zweifelnd fragen, ob er der verheißene Messias sei. In seiner Antwort an den Täufer spielte Jesus darauf an, dass der Messias Jes 35,5-6 zufolge nicht nur einzelne Heilungswunder tun würde, wie die Propheten vor ihm, sondern sehr viele. Der Messias sollte an der enormen Fülle seiner Machttaten erkannt werden, die weit über alles hinausging, was man aus den heiligen Schrift über wundertätige Propheten wusste. Eine Identifizierung Jesu als Messias wäre diesem biblischen Konzept zufolge ohne Wunder nicht möglich gewesen.

Durch seine Fähigkeit, in eigener, unabgeleiteter Vollmacht Wunder zu tun, belegte Jesus seinen Anspruch, Gottes Sohn zu sein
Eine zweite Besonderheit der Wunder Jesu liegt in der Autorität, in der sie geschehen. Die alttestamentlichen Propheten und die neutestamentlichen Apostel heilten im Namen Gottes bzw. Jesu (Apg 3,6) oder durch Gebet (Apg 9,40). Den Gedanken, sie hätten aus eigener Kraft geheilt, lehnten sie vehement ab (Apg 3,12; vgl. 2Kö 5,7). Dieser Anspruch wird auch in den rabbinischen Wundergeschichten keinem der zeitgenössischen jüdischen Wundertäter zugeschrieben. Genau diesen Anspruch erhob aber Jesus. Und durch seine Fähigkeit, in eigener, unabgeleiteter Vollmacht Wunder zu tun, belegte er den Evangelien zufolge seinen Anspruch, Gottes Sohn zu sein. Die Fähigkeit, einem Gelähmten in eigener Vollmacht Heilung zuzusprechen bewies sein Recht, in eigener Vollmacht Vergebung zuzusprechen, so wie nur Jahwe es kann (Mt 9,1-8 par). Jesus erhob nicht nur den Anspruch, in eigener Autorität Worte Gottes zu sagen: “ Ich aber sage euch …“ (Mt 5,28). Er beanspruchte auch, in eigener Autorität Wunder Gottes zu tun: “ Ich sage dir, stehe auf!“ (Lk 5,24) und “ Ich will, sei gereinigt!“ (Lk 5,13).6

In diesem Sinne heißt es am Ende des Johannesevangeliums, die Wunder Jesu seien aufgezeichnet worden, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes“ (Joh 20,31). Die Identität Jesu sollte an seinen übernatürlichen Taten abgelesen werden. Eine wunderfreie Christologie gibt es im Neuen Testament nicht. Natürlich kann man diese Verknüpfung von Wunder und Gottessohnschaft als verfehlt bezeichnen. Es lässt sich aber nur schwer bestreiten, dass sie für das Neue Testament unverzichtbar und konkurrenzlos ist. Wer an dieser Stelle streicht, trifft die christliche Botschaft in ihrem Kern.

4. Die Möglichkeit von Wundern (zu These 15 und 19)

Warum hält Prof. Lindemann es für ausgeschlossen, dass diese Wunder passiert sind? Weil er den historischen Quellenwert der Evangelien für minimal hält (Thesen 15). Warum ich diese Ansicht nicht teile, habe ich oben (Abschnitt 1-2) gesagt. Allerdings ist es immer leichter, die Wahrheit einer historischen Angabe zu bestreiten als sie zu verteidigen. Daher könnte man den Spieß auch einmal umdrehen. Wie müssten die neutestamentlichen Geschichtsbücher einschließlich der in ihnen enthaltenen Wundergeschichten denn im einzelnen beschaffen sein, damit Prof. Lindemann ihnen einen historischen Wert zubilligen könnte? Das ist eine schlichte Frage, deren Beantwortung sehr aufschlussreich sein könnte.

Seine weltanschaulichen Voraussetzungen legt Prof. Lindemann nicht ganz offen. Einerseits weist er die Vermutung, er vertrete ein deistisches Gottesbild, mit dem Hinweis zurück, ein Deist könne nicht beten (These 19). Das steht aber nicht zur Debatte. Es geht um eine etwas andere Frage: Halten wir es für möglich, dass der Gott, zu dem wir beten, über den Gesetzmäßigkeiten seiner Schöpfung steht und diese in Ausnahmefällen durchbrechen kann, indem er etwa einen Toten ins Leben zurückruft? Oder schließen wir dies aus, weil Gott zwar existiert und ansprechbar ist, aus bestimmten Gründen aber an die in dieser Welt geltenden Naturgesetze absolut gebunden ist? Dass ich die zweite Option für philosophisch unbegründbar halte, habe ich in meinem ersten Beitrag gesagt.

Prof. Lindemann verzichtet auf eine eindeutige Festlegung und schreibt in seinem Beitrag für dieses Heft, eine Entscheidung über die grundsätzliche Möglichkeit von Wundern sei für den Theologen (bzw. für den Christen) verzichtbar (These 19). Die im vorangehenden Abschnitt skizzierte Funktion des Wunders innerhalb der neutestamentlichen Theologie zeigt meines Erachtens, dass diese Auskunft nicht ausreicht. Ein Christentum ohne Wunder unterscheidet sich vom historischen Christentum fundamental. Daher hat die weltanschauliche Entscheidung, Wunder könne es nicht geben, für den christlichen Glauben enorme Konsequenzen. Die Einsicht, dass es keinen philosophischen Grund gibt, Wunder als prinzipiell unmöglich einzustufen, ist daher von erheblicher Bedeutung. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt.

5. Die Grenzen der Christenheit (These 1, 3)

Zu Beginn seines zweiten Beitrags legt Prof. Lindemann Wert auf die Feststellung, auch ein „liberaler“ Theologe, der die Historizität der Auferstehung Jesu bestreitet, könne ein Christ sein (These 1). Christ in welchem Sinne? Im Sinne der Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche? Sicherlich. Im Sinne des Heidelberger Katechismus? Kaum. Kein reformierter (oder lutherischer) Theologe des 16. Jahrhunderts hätte die von Prof. Lindemann vertretenen Thesen zur Auferstehung Jesu als christlich bezeichnet. Im Sinne des sogenannten Apostolischen Glaubensbekenntnisses? Nein, wenn man dessen Aussagen so interpretiert, wie sie von den frühen Kirchenvätern verstanden wurden. Im Sinne des Neuen Testaments?

Man mag keine Schwierigkeiten haben, jemanden als Christen zu bezeichnen, der einen Widerspruch zwischen den Geschlechtsregistern Jesu konstatiert, die Reden Jesu im Johannesevangelium für weitgehend fiktiv hält oder aber die eine oder andere Aussage des Apostels Paulus ablehnt. Prof. Lindemann aber bestreitet in seinem SPIEGEL-Interview die christologische Kernaussage des Neuen Testaments, dass Jesus der Sohn Gottes war (und daher ist), und ersetzt sie durch die (nur scheinbar ähnliche) Aussage, dass Jesus der Sohn Gotte ist . Und er bestreitet die Zentralaussage der neutestamentlichen Soteriologie, Jesus sei historisch von den Toten auferstanden, und bekennt stattdessen (nur auf den ersten Blick bedeutungsgleich), Jesus sei von Gott auferweckt worden.

Was die beiden von Prof. Lindemann formulierten Aussagen positiv bedeuten, hat sich mir nicht erschlossen. Vielleicht haben sie gar keine sinnvolle Bedeutung. Eindeutig ist aber, was sie nicht bedeuten und ausschließen. Ob zwei Menschen den gleichen Glauben haben, lässt sich meines Erachtens nicht einfach daran ablesen, ob sie die gleichen Begriffe verwenden. Ein solches Urteil hängt davon ab, welche Inhalte sie mit den Begriffen meinen. Inhaltlich sind die Aussagen, die Prof. Lindemann und ich über das Heil in Christus treffen, bis zur Gegensätzlichkeit verschieden. Uns trennt ein garstiger breiter Graben, weil Prof. Lindemann das Christentum aus meiner Sicht in seinem Zentrum entkernt. Ich bin überzeugt, dass man sich durch eine solche Theologie tatsächlich von den Wurzeln des Christentums abschneiden kann (Troeltsch). Aber das letzte Urteil über unser Leben und unseren Glauben kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.


  1. Für den entsprechenden Nachweis siehe meine Dissertation Lukas als Historiker der letzten Jesusreise, TVGMS 379, Wuppertal 1993, 128-135. 

  2. Zur Bedeutung der Augenzeugenschaft für die Evangelien siehe jetzt S. Byrskog, Story as History – History as Story, WUNT 123, Tübingen 2000, 48-91. 

  3. Für einen vorsichtigen Versuch, die Synoptiker mit Johannes zu verbinden, siehe Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des Lebens Jesu (1928), Holzgerlingen 1999.  

  4. Vgl. dazu meinen Beitrag „Die Authentizität der synoptischen Worte Jesu.“ Das Studium des Neuen Testaments. Bd 2. Spezialprobleme, BWM 8, Hg. H.-W. Neudorfer und E. J. Schnabel, Wuppertal 2000, 155-177. 

  5. Zur Anwendung des antiken Konzepts der Authentizität auf das Johannesevangelium siehe P. W. Ensor, Jesus and His `Works‘. The Johannine Sayings in Historical Perspective, WUNT II/85, Tübingen 1996, bes. 27-47. 

  6. Vgl. dazu J. P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Bd 2, ABRL, New York 1994, 581-588.