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Messianische Juden in Israel: Mythen und Fakten

Viele Äußerungen über messianische Juden beruhen nur auf Vermutungen und Halbwissen. Besser man schaut genau hin.

Mit Mythen aufräumen, wollen die beiden dänischen Lutheraner Kai Kjær-Hansen und Bodil F. Skjøtt, und gleichzeitig Fakten über die messianisch-jüdischen Gemeinden in Israel liefern. Deshalb haben sie zwischen Oktober 1998 und Juni 1999 eine Umfrage unter messianischen Juden in Israel durchgeführt. Die Ergebnisse wurden jetzt in einer Studie unter dem Titel „Facts and Myths about the Messianic Congregations in Israel” vom Caspari-Zentrum für biblische und jüdische Studien in Jerusalem veröffentlicht. Kai Kjær-Hansen ist internationaler Koordinator der Lausanner Beratung für jüdische Evangelisation und Vorsitzender der Dänischen Israel-Mission. Die Theologin Bodil F. Skjøtt hat in den vergangenen zehn Jahren im Caspari-Zentrum in Jerusalem als Redaktionssekretärin für die Zeitschrift „Mishkan” gearbeitet.

Die Umfrage

Die Stärke dieser Studie liegt zweifellos in der Offenheit, mit der die Verfasser ihre Vorgehensweise erklären. Das Material wird so präsentiert, dass jeder nachvollziehen kann, wie sie zu ihren Ergebnissen kommen. Natürlich ist genau das auch der Punkt, an dem Kritiker einhaken, wo sie Fehler, Schwachpunkte und Auslassungen nachweisen können. Einige Gemeinden haben ein Interview von vornherein abgelehnt, beziehungsweise auf die Anfrage gar nicht erst reagiert, darunter die drei Brüdergemeinden in Jerusalem, Haifa und Jaffa, die zu den ältesten messianischen Gemeinden des Landes zählen. Andere Gemeinden wünschten anonym zu bleiben. Das haben die Verfasser genauso akzeptiert, wie den Wunsch von fünf Gemeindeleitern, die nach Durchsicht des Profils ihrer Gemeinde darum baten, von einer Veröffentlichung abzusehen. Der Leiter einer Gemeinde ist der Ansicht, dass „Gott verboten hat, eine Volkszählung in Israel vorzunehmen”. In der Regel wurde den messianischen Leitern das, was Kjær-Hansen und Skjøtt über sie geschrieben hatten, noch einmal zur Korrektur vorgelegt. Einerseits garantiert das eine Authenzität der Berichte, die ein Außenstehender sonst kaum erreicht. Andererseits sehen die Dänen selbst ein Problem: „Trotz bester Absichten hat unsere Verpflichtung gegenüber den Gefühlen der Befragten manchmal zu einer weniger ,kritischen‘ Sichtweise geführt, als ein wissenschaftlicher Anspruch erfordert hätte.” Das wird zum Beispiel deutlich, wo es um die finanzielle Situation geht, von der sie „kein so umfassendes Bild gewinnen konnten, wie wir uns das gewünscht hätten”. Einige Gemeinden legten sehr detaillierte Finanzberichte vor. Andere verweigerten jegliche Auskunft. Deshalb können die Verfasser nur den Eindruck weitergeben, dass „in manchen Gemeinden eine klare Trennung zwischen den Privatfinanzen des Leiters und den Finanzen der Gemeinde” zu fehlen scheint. Aufgefallen ist ihnen weiter, dass ältere Gemeinden mit einer Beziehung zu ausländischen Organisationen einen transparenteren Weg der Finanzverwaltung zu haben scheinen.

Wie viele „messianische Juden” gibt es? Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren dem Caspari-Zentrum 81 Gemeinden und unabhängige Hausgruppen in Israel bekannt. Innerhalb dieser messianischen Gemeinden gibt es mehr als 130 Hauskreise. Alle befragten Gemeindeleiter wurden um eine Schätzung der Zahl messianischer Juden in Israel gebeten. Die Antworten umfassten eine Spanne von 500 bis 50.000 Jesusgläubige in Israel. Das „Messianic Action Committee” (MAC), das seit ein paar Jahren vor allem im Blick auf eine drohende Antimissionsgesetzgebung in Erscheinung getreten ist, spricht von 5.000 bis 7.000 „messianischen Gläubigen” in Israel. Allerdings sind darin alle „Messias-Gläubigen” eingeschlossen, Juden und Nichtjuden, auch die arabischen Evangelikalen. In den großen Gemeinden – besonders in den Städten und ganz besonders in Jerusalem – ist es normal, dass Touristen oder Kurzzeitbesucher am Gottesdienst teilnehmen. In manchen Gemeinden sind regelmäßig ein Viertel oder gar ein Drittel der Besucher Ausländer. Ein Mangel an systematischen Kriterien für die Definition einer Mitgliedschaft erschwert die Erfassung der messianischen Juden in Israel genauso, wie die Möglichkeit einer Mehrfachmitgliedschaft in verschiedenen Gemeinden. Auch wenn eine Volkszählung in Israel heute erlaubt sein sollte, einfach ist sie keinesfalls.

Wer ist „messianischer” Gläubiger? – Diese Frage beleuchtet eine weitere Vorentscheidung bei der Erstellung einer Umfrage zur Erfassung der Gemeinde in Israel. Die Bezeichnung „messianisch” verwenden Kjær-Hansen und Skjøtt ausschließlich für Gläubige jüdischen Ursprungs. Eine ganze Anzahl von nicht-jüdischen Gläubigen haben in den messianischen Gemeinden Israels eine geistliche Heimat gefunden. Sie werden in der vorliegenden Studie nicht als „messianisch” bezeichnet, während jedoch hebräischsprachige Gemeinden auch dann als „messianisch” bezeichnet werden, wenn diese mehrheitlich aus Nichtjuden bestehen. Im Hebräischen werden von vielen Judenchristen meist alle Messias-Gläubigen als „Meschichim” bezeichnet, weil der übliche Begriff für „Christen”, „Notzrim”, zu sehr durch die leidvolle christlich-jüdische Geschichte belastet ist. In jüdischen Ohren sind „Notzrim” diejenigen, die das Erbe der Kreuzfahrer, Inquisitoren und Hitlers verwalten. Orthodoxen Juden ist der Begriff „Notzrim” oftmals gleichbedeutend mit dem biblischen Begriff „Amalek”, der den Volksstamm bezeichnet, der alles daran setzte, das Volk Israel am Einzug ins verheißene Land zu hindern, es als auserwähltes Volk zu vernichten.

Mit der Einschränkung des Begriffes „messianisch” auf jüdisch-stämmige Christen, haben die Verfasser zwar ein Problem gelöst, aber andere, grundlegende Fragen aufgerissen. Wer ist Jude? ist eine Frage, die heute die gesamte israelische Gesellschaft bewegt und unterschiedlich beantwortet wird. Das Rückkehrergesetz des Staates Israel verleiht jedem das Recht auf Staatsbürgerschaft, der von den Nationalsozialisten als Jude verfolgt wurde. Nach rabbinischem Gesetz, der Halacha, ist Jude, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist. Die Studie des Caspari-Zentrums richtet sich nach dem „Selbstverständnis der jeweiligen Personen”, auch wenn diese halachisch keine Juden sind.

Anhand dieser Kriterien stellten Kjær-Hansen und Skjøtt fest, dass es in den befragten Gemeinden und Hauskreisen 3.997 Juden gibt, die an Jesus als ihren Messias glauben, darunter 1.197 Kinder. Nicht gezählt wurden Nichtjuden, auch wenn diese mit Juden verheiratet sind. Natürlich gab es Kritik an diesen Fragen, die „in jedem anderen Land als rassistisch bezeichnet würden”. In Christus ist „nicht Jude noch Grieche” und in der überwältigenden Mehrzahl der messianischen Gemeinden in Israel hat die Abstammung keinerlei Einfluss auf die Gemeindezugehörigkeit. Ein Pastor gab zu verstehen, er wolle seine Gemeindeglieder nicht in Kategorien einteilen, nicht einmal aus statistischen Gründen. Alle Glieder seiner Gemeinde seien Juden.

Die Untersuchung zeigt einen enormen Zuwachs von neuen Gemeinden in den 90er Jahren. Gleichzeitig ist aber auch eine größere Unterschiedlichkeit zu verzeichnen. Dabei ist bemerkenswert, dass die „jüngeren” Gemeinden den größten Zuwachs erfahren haben. Obwohl Evangelisieren in Israel nicht illegal ist, berichten nur sehr wenige Gemeinden von regelmäßigen Evangelisationsprogrammen. Die Angaben der Gemeindeleiter machen deutlich, dass das Wachstum der Gemeinden vor allem auf Einwanderung zurückzuführen ist. Außerdem ist eine beachtliche Anzahl von Neueinwanderern im Lande zum Glauben gekommen. Vor allem die Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion scheinen weniger Reservationen gegenüber dem christlichen Glauben zu haben und nehmen eher eine Einladung in die Gemeinde an. Dadurch ist mancher zum lebendigen Glauben gekommen.

Seit dem Fall des eisernen Vorhangs sind fast eine Million Neueinwanderer aus den GUS-Staaten nach Israel gekommen. Die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hat einen großen Einfluss auf die israelische Gesellschaft, auch auf die messianische Bewegung. 57 der in der Umfrage erfassten 81 Gemeinden wurden in den 90er Jahren gegründet. Neben dem „Exodus aus dem Land des Nordens” gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrere Einwanderungswellen aus Äthiopien. Die erste amharischsprachige Gemeinde wurde nach der „Operation Moses” 1984-1985 gegründet. Auch mit „Operation Salomo” 1991 kam eine Anzahl jesusgläubiger äthiopischer Juden nach Israel. Entgegen anderen Angaben wird die Zahl der äthiopischen Juden, die an Jesus glauben, von der Caspari-Studie auf etwa 200 geschätzt. Darunter sind 30 nicht-jüdische Ehepartner und 50 Kinder. Die „äthiopischen” Gemeinden haben sich allerdings bewusst still verhalten, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung und der Behörden auf sich zu ziehen. Sowohl unter den „äthiopischen” als auch unter den „russischen” Gemeindeleitern gibt es einige, die ihre Gemeindeglieder ermutigen, sich einer hebräischsprachigen Gemeinde anzuschließen. Eine Gemeinde äthiopischer Juden in Haifa gab als Ziel ausdrücklich an, überflüssig zu werden und ihren Mitgliedern bei der Integration in hebräischsprachige Gemeinden zu helfen. In Hadera hat sich eine Gemeinschaft bis Mai 1999, das heißt während des Umfragezeitraums, aufgelöst. Die meisten äthiopischen messianischen Juden haben mittlerweile in hebräischsprachigen Gemeinden eine geistliche Heimat gefunden.

Eine messianische Theologie?

Nur 20 der 69 Gemeinden haben ein schriftlich ausformuliertes Glaubensbekenntnis, die Kjær-Hansen und Skjøtt als Anhaltspunkte für eine spezifische messianische Theologie hätten dienen können. Außerdem mussten sie feststellen, dass auch die Existenz einer Gemeindeordnung nicht automatisch bedeutet, dass diese im täglichen Leben der Gemeinde oder im Denken des gegenwärtigen Leiters eine bedeutende Rolle spielt. Allgemein kann gesagt werden, dass die meisten Gemeinden die üblichen konfessionellen Bezeichnungen vermeiden. Aufgrund ihres Inhalts sind alle Glaubensbekenntnisse als „evangelikal” einzustufen. Sie betrachten die Bibel alten und neuen Testaments als autoritatives Wort Gottes und bekennen, dass alle Menschen, Juden und Nichtjuden, gesündigt haben und der Errettung bedürfen. Außerdem besteht darin Übereinstimmung, dass das Heil ausschließlich durch den Glauben an Jesus, durch dessen Tod und Auferstehung, bewirkt wird.

Der Gottesdienststil ist in vielen Gemeinden offensichtlich das, was man gemeinhin als „charismatisch” bezeichnen würde. David und Lisa Loden aus Netanja streben einen Gottesdienst an, der „kulturell relevant ist und eine israelisch-jüdische Identität zum Ausdruck bringt”. Durch die Feier der jüdischen Feste, besonders auch des Versöhnungstages, wollen sie ihre „Solidarität mit dem jüdischen Volk” verdeutlichen. Fast alle Gemeinden feiern die jüdischen Feiertage und sehen deren Erfüllung in Jesus. Manchmal werden sie in der Predigt aufgegriffen, andere sehen sie einfach „als Gelegenheit zur Gemeinschaft” oder „Mittel zur Evangelisation”. Im Allgemeinen geht es weniger um das Einhalten rabbinischer Bestimmungen. Entscheidend ist, dass die biblische Bedeutung der Feste gelehrt wird. Die traditionellen kirchlichen Feiertage werden von Gemeinden, die vor 1990 gegründet wurden, nur von den drei lutherischen Gemeinden in Jerusalem, Jaffa und Haifa, und einer der ältesten Gemeinden des Landes in Ramat Gan gefeiert. Dass einzelne Gemeindeglieder Weihnachten feiern, ist kein Anlass zu Diskussionen. Die Mehrheit der russischsprachigen Gläubigen kommen aus einem baptistischen oder pfingstlerischen Hintergrund. Sie sehen keinen Grund, sich von der christlichen Kirche zu distanzieren. Viele von ihnen feiern ganz natürlich das Weihnachtsfest. Wiederholt erwähnt der Bericht, dass Mitglieder sogar einen Weihnachtsbaum aufstellen. Aus Russland brachten sie ihre Traditionen, ihre Theologie und ihren Gottesdienststil mit. Das Kreuz wird als Symbol, von einer Ausnahme abgesehen, allerdings in keiner Gemeinde verwendet. Auch in traditionellen Kirchengebäuden, wie der Christ Church in Jerusalem, dem Beit Eliahu in Haifa und der lutherischen Immanuel Kirche in Jaffa fehlt das Kreuz. Im Blick auf die historische Beziehung zwischen der christlichen Kirche und dem jüdischen Volk und die Art und Weise, wie das Kreuz gegenüber Juden verwendet wurde, ist dies verständlich.

Man hätte auch erwarten sollen, dass mehr Gemeinden bei der Gottesdienstgestaltung einem festgelegten Textzyklus folgen, wie das in der Synagoge Sitte ist. Erstaunlich ist, dass Lesungen aus dem Neuen Testament selten sind, wenngleich viel über das NT gepredigt und es auch in Hauskreisen gelesen wird. Selbst die beiden Gemeinden, die eine Torarolle besitzen, lesen nur einen Abschnitt des wöchentlichen Toraabschnitts. In ähnlicher Weise stellen die lutherischen Befrager erstaunt fest, dass das Vaterunser kaum benutzt wird:

„Nur die drei lutherischen Gemeinden beten das ,Gebet des Herrn‘ regelmäßig, einige andere, ausnahmslos russischsprachige, gaben in der Umfrage an, ,manchmal‘ das Vaterunser zu beten. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil dieses Gebet von seiner Form und seinem Ursprung her jüdisch ist.”

Einige Gemeinden bemühen sich um Nähe zum traditionell jüdischen Lebensstil. Josef Shulam, Leiter der Gemeinde „Ro’eh Israel” in Jerusalem, vertritt im Rahmen des vom Caspari-Zentrum erfassten Spektrums die vermutlich „orthodoxeste” Position: „Das Heim der Gläubigen im Land Israel sollte so geführt werden, dass sich kein gemäßigt-orthodoxer Jude fürchten muss hineinzugehen und an den Mahlzeiten teilzunehmen… Wenn wir der jüdischen Gemeinde Ursache geben, uns zu verurteilen, weil wir die Traditionen und Gesetze des Judentums nicht halten, dann trennen wir uns selbst von der Gemeinschaft, der wir doch so gerne Jeschua bringen wollen.” Die Gemeinde in Ramat Gan betont, dass die Tora nach wie vor für jüdische Nachfolger Jesu gültig sei. Allerdings werden die rabbinischen Traditionen nicht befolgt. Die Gemeindeglieder halten einen koscheren Haushalt und den Schabbat als Ruhetag. In anderen Gemeinden zeigt sich die Nähe zu den jüdischen Wurzeln zum Beispiel dadurch, dass das Abendmahl nur einmal im Jahr in Verbindung mit dem Passahmahl gefeiert wird.

Auch im Blick auf eine „Israeltheologie” spiegelt das Ergebnis der Umfrage eine evangelikale Stellung wieder, mit dem Unterschied, dass in den messianischen Gemeinden niemand eine Enterbungslehre[1]zu vertreten scheint. Die lutherischen Gemeinden erwähnen nur, dass Gott der Gott Israels ist, der sich in Jesus geoffenbart hat. Darüber hinaus ist weder der Staat Israel als Zeichen der Endzeit noch eine Erklärung der Rolle Israels zu finden. Die reformiert-baptistische Gemeinde „Gnade und Wahrheit” in Rischon LeZion erklärt in ihrer Gemeindeordnung: „Gott wird alle seine Verheißungen an Israel wörtlich erfüllen”. Die Gemeinde „Pni’el” in Tiberias betont, dass Israel das erwählte Volk ist. In der Verfassung der Christ Church in der Jerusalemer Altstadt steht, dass die christliche Gemeinde Israel nicht ersetzt und dass die Rückkehr des jüdischen Volkes in den Staat Israel die nationale Wiederherstellung Israels darstellt, die von den Propheten verheißen wurde. Die Gemeinde „Neveh Zion” aus dem Norden Jerusalems glaubt an „den Fortbestand des Bundes Gottes mit dem physischen Volk Israel”. Dazu gehört auch „die physische Rückkehr des Volkes in das verheißene Land”. Die Gemeinde „Roeh Yisrael” im Zentrum von Westjerusalem sieht eine klare Verheißung für die Errettung Israels „durch den Glaubensgehorsam an Jeschua”. Und „Ohalei Rachamim” in Kirjat Jam erwartet, dass der „Messias seine weltweite Herrschaft von Jerusalem aus errichten” werde. In Paragraph 11 (10) dieser Gemeindeordnung ist zu lesen: „Wir glauben, dass die Nation Israel erwählt ist, um ein Segenskanal für alle Völker der Erde zu sein. Die Rückkehr unseres Volkes in sein Land ist die Erfüllung biblischer Prophetie…”

Die Caspari-Umfrage meint erkennen zu können, dass die Stärkung der jüdischen Identität ohne eine Veränderung der Theologie, der Christologie oder Soteriologie weg von der christlichen Kirche stattgefunden hat. Das Einbeziehen von jüdischen Elementen und die Art und Weise in der dies geschieht, verändert die grundlegende Theologie der messianischen Gemeinden keinesfalls. Zusammenfassend kommen die beiden dänischen Lutheraner zu dem Schluss:

„Unsere Interpretation des gesammelten Materials ist, dass sich die Theologie der messianisch-jüdischen Gemeinden nicht bedeutend von anderen Gruppierungen innerhalb der christlichen Kirche unterscheidet. Im Bereich des Gottesdienstes unterscheiden sie sich oftmals überhaupt nicht… Deshalb sollte die messianische Bewegung am besten als ,christlich-evangelikal‘ beschrieben werden.”

Diese Beurteilung wird unterstützt von Aussagen, wie zum Beispiel der des Leiters der „Kehila Meschichit Ahavah” in Nazareth Illit. Der aus der Schweiz stammende René Stutz erklärt: „Das Wort ,messianisch‘ im Namen der Organisation deutet nicht darauf, dass den jüdischen Traditionen Priorität eingeräumt wird, sondern unterstreicht die Zentralität des Glaubens an den jüdischen Messias”.

An dieser Stelle wird vielleicht das Profil und die Stellung des Caspari-Zentrums als ausländische, konfessionell lutherisch gebundene Institution zum Problem. Kaum erwähnt werden Diskussionen unter manchen messianischen Juden um die bekenntnismäßige Festlegung auf die Jungfrauengeburt oder die Lehre von der Dreieinigkeit. Bei einer Abkoppelung von kirchlichen Traditionen verbunden mit einer Rückkehr zum Wortlaut der Heiligen Schrift in Auseinandersetzung mit einem jüdischen Umfeld sind diese Fragen relevant. Neben der leidvollen christlich-jüdischen Geschichte ist vor allem die Trinitätslehre der Stolperstein für orthodoxe Juden, Jesus als Messias anerkennen zu können. Problematisch ist, dass die Fragen um das Wesen Jesu innerhalb der messianischen Gemeinschaft kaum offen diskutiert werden können, weil zwar nicht theoretisch, wohl aber in der Praxis viele messianische Juden, besonders aber die Leiter, finanziell von ausländischen Geldgebern abhängig sind.

Christenverfolgung in Israel?

Für viele Gemeinden oder ihre Mitglieder scheint Widerstand zum Leben als jesusgläubiger Jude in Israel zu gehören. Die Befragten berichteten davon, dass Plakate in der Öffentlichkeit vor Gruppen oder Einzelnen warnten. Zeitungen veröffentlichten negative Artikel. Drohungen, bis hin zu Morddrohungen, wurden laut, in manchen Fällen sogar vom örtlichen Rabbiner. Profilierten Gemeindegliedern wurde mit dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht und in manchen Fällen kam es auch zu Kündigungen. So wurde zum Beispiel 1975 Ruth Nissim, die Frau eines Gemeindeleiters in der nordisraelischen Stadt Naharija, aufgrund ihrer missionarischen Aktivitäten aus ihrer Stelle bei der örtlichen Krankenkasse entlassen. Nach Protesten von seiten ihrer Kollegen wurde die Kündigung jedoch zurückgenommen. Verschiedentlich kam es zur Zerstörung von Eigentum. Den Autos von prominenten Gemeindegliedern wurden die Reifen zerschnitten. In Gemeinderäumen wurden Fensterscheiben durch Steinwürfe zerbrochen, die Wände von Gebäuden wurden mit Farbtöpfen beworfen oder mit Kreuzen und Hakenkreuzen beschmiert. Der meiste Schaden entstand durch Brandstiftung an Gebäuden und Fahrzeugen. Auch wurden Wohnungseinbrüche gemeldet.

Immer wieder erfahren Gemeindeglieder bürokratische Hürden, zum Beispiel haben sie Schwierigkeiten bei der Einschulung ihrer Kinder oder, im Falle von gläubigen Neueinwanderern, bei der Anerkennung der israelischen Staatsbürgerschaft. Das Problem ist bei der Einwanderung von jesusgläubigen Juden, dass das israelische Rückkehrergesetz nicht nur die Konversion zum Judentum anerkennt, sondern auch den Umkehrschluss zieht. Wer also seinem Judentum durch Religionswechsel bewusst den Rücken kehrt, verwirkt dadurch sein Recht auf Einbürgerung. Bis zur letzten Wahl war das Innenministerium in den Händen der ultra-orthodox sephardischen Schass-Partei, die diese Klausel gerne benutzte, um messianische Juden unter Druck zu setzen. Allerdings ist bislang kein Fall bekannt, in dem ein jesusgläubiger Jude des Landes verwiesen wurde. 1988 ergab eine Gallup-Umfrage in der israelischen Öffentlichkeit, dass eine Mehrheit der Israelis dafür ist, Juden, die an Jesus glauben, im Rahmen des Rückkehrergesetzes in den Staat Israel einwandern zu lassen. Wenn Gemeinden versucht haben, als gemeinnützige Organisation anerkannt zu werden, haben sie gelegentlich Verzögerungen und Schwierigkeiten erfahren. Als die Gemeinde „Gnade und Wahrheit” 1983 in neugemietete Räumlichkeiten in Rechovot einziehen wollte, erwirkten orthodoxe Gruppen eine Verfügung, die die Benutzung dieser Räume zu kirchlichen Zwecken untersagte. Und die Stadtverwaltung von Tiberias weigerte sich anfangs, der von messianischen Juden geführten Gal Group Industries Ltd., dem Besitzer von Galilee Experience, eine Geschäftslizenz zu erteilen. In beiden Fällen entschieden israelische Gerichte zugunsten der messianischen Gläubigen. Im vielleicht spektakulärsten Fall, in dem israelische Behörden gegen messianische Juden vorgingen, wurde 1996 das Haus der Gemeinde „Kol BaMidbar” in Kirjat Gat von der Polizei durchsucht. Evangelistisches Material wurde konfisziert und Gemeindeglieder wurden in der Polizeistation verhört.

Im Gegensatz zu anders lautenden Behauptungen ist Mission in Israel keinesfalls verboten. Die Umfrage des Caspari-Zentrums ergab, dass viele Gemeinden kaum oder keinen Widerstand erfahren haben. Interessant und für Berichte lukrativ sind natürlich Schwierigkeiten und nicht die Normalität. Dadurch entsteht vielfach eine verzerrte Darstellung der Religionsfreiheit in Israel. Bei der Beurteilung der Lage wird auch außer Acht gelassen, dass Israel bewusst ein jüdischer Staat ist, der noch dazu Zielpunkt ganz unterschiedlicher religiöser Ambitionen aus aller Welt ist. Das sogenannte Antimissionsgesetz vom Dezember 1977 verbietet, Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren zum Religionsübertritt zu bewegen. Außerdem ist verboten, jemanden durch materielle Vorteile bekehren zu wollen. Allerdings wurde dieses Gesetz nie angewandt. Das bedeutet jedoch nicht, dass Antimissionsaktivisten nicht aktiv werden und teilweise auch das Gesetz in die eigenen Hände nehmen könnten. Es gibt in Israel mehrere profilierte, gut organisierte Antimissionsorganisationen. Diese haben durch Störungen und Einschüchterung von Teilnehmern versucht, Gottesdienste zu verhindern. In einigen wenigen Fällen waren die orthodoxen Juden auch erfolgreich und Neubekehrte hörten auf, in den Gottesdienst zu kommen. Die Tatsache, dass eine Gemeinde zum Zielpunkt von Schikanen wird, zeigt, dass sie bekannt ist und dass ihre Aktivitäten zumindest von ein paar Leuten in der Gesellschaft nicht gerne gesehen werden. Wenn es allerdings keine Schwierigkeiten gibt, kann keinesfalls der Umkehrschluss gezogen werden. Vielmehr deutet das eher darauf hin, dass die Antimissionsorganisationen in einer Gegend weniger aktiv sind. Am 16. März 1984 wurde Victor Smadja, leitender Bruder in der Jerusalemer „Kehilat Meschichit” in einer israelischen Tageszeitung mit der Ansicht zitiert, dass Opposition gegen die Gemeinden saisonal auftreten:

„Es gibt Zeiten, in denen [Antimissionsaktivisten] ihre Aktivitäten steigern müssen, um besonders vor Wahlen ihre Effektivität unter Beweis zu stellen.”

Die Ereignisse nach dem Sturz der Regierung Netanjahu im Oktober 1998 bis zu den Wahlen am 17. Mai 1999 scheinen diese These zu unterstützen.

Hebräische Katholiken

Es gibt in Jerusalem, Haifa, Jaffa und Beerscheva vier hebräischsprachige katholische Gemeinden, die in das Opus Sancti Jacobi des Lateinischen Patriarchats in Jerusalem integriert sind. Die hebräischen Katholiken, die in diesen Gemeinden zusammenkommen, sind unabhängig von der messianischen Bewegung und werden deshalb nur am Rande erwähnt. Sie haben aus Rom Erlaubnis erhalten, die Messe auf Hebräisch zu zelebrieren. Dabei benutzen sie eine Übersetzung, die sehr frei und an die in der Bibel und rabbinischen Tradition gefundene jüdische Gebetssprache anschließt. Ähnliche wie die messianische Bewegung sucht der hebräische Katholizismus die jüdische Identität zurückzugewinnen und eine jüdischere Gottesdienstform zu schaffen. Im Gegensatz zur messianischen Bewegung verstehen sich die hebräischen Katholiken ausdrücklich als Teil der katholischen Kirche und Tradition. Es ist ein Wesenszug der messianischen Bewegung, unabhängig zu sein und sich von allen ausländischen Organisationen und Denominationen zu lösen. Eine pfingstlich geprägte Gemeinde in Haifa betrachtet alle Formen von Tradition nicht nur als überflüssig, sondern auch als Ablenkung vom Wesentlichen. „Jeder soll tun, was er will… wir betonen die Heilige Schrift und Jeschua” heißt es in dem vom Gemeindeleiter genehmigten Bericht des Caspari Zentrums.

Der katholische Priester Juan Moreno fasst die Gründe für eine eigenständige hebräischsprachige katholische Kirche folgendermaßen zusammen:

„Im Blick auf die katholische Kirche fühlen sie sich gerufen, nach einem positiveren Bild des jüdischen Volkes, einer größeren Hochschätzung des jüdischen Erbes und der Einheit der beiden Bundesschlüsse zu streben.”

Darüber hinaus wollen sie „alle möglichen Überreste von Antisemitismus der Vergangenheit, die sich noch in der Kirche finden mögen” bekämpfen. „Im Blick auf Israel wollen sie ein Gegengewicht bilden zu den allgemeinen Vorurteilen, dass ein Jude nicht Christ werden und trotzdem Jude bleiben könne”. Moreno schätzt die Zahl der hebräischsprachigen Katholiken auf 400 bis 500. Sie sind in die Zählung des Caspari-Zentrums nicht mit eingeschlossen. Vor allem auch deshalb, weil nicht klar ist, wie viele dieser hebräischen Katholiken nichtjüdischer Abstammung sind. Die katholische Kirche arbeitet in Israel nicht evangelistisch. Das ist eine mögliche Erklärung dafür, dass sie von orthodox-jüdischen Kreisen nicht in ähnlicher Weise bekämpft wurden, wie die messianische Bewegung.

Die heilsgeschichtliche Perspektive

Was Israel und der Zustand der Gemeinde im Heiligen Land für „die Gläubigen aus den Nationen” so besonders interessant macht, ist die heilsgeschichtliche Fragestellung. Was zeigt der „Zeiger an Gottes Weltenuhr” an? Doch genau darüber gibt die Studie nur wenig, wenn überhaupt Auskunft. Dann müsste nämlich genauer untersucht werden, wer von den „messianischen” Gläubigen ursprünglich nichtjüdischer Abstammung war und zum Judentum konvertiert ist. In einem Fall wird erwähnt, dass in einer mehrheitlich jüdischen Gemeinde zwei Glieder zum Judentum konvertiert sind, bevor sie sich der Gemeinde anschlossen. Anfang der 80er Jahre kam es in Rischon LeZion zu einer Gemeindespaltung. Eine Gruppe war zu der Überzeugung gelangt, dass jesusgläubige Juden durch die Tora gebunden seien. Nichtjuden sollten durch Konversion zum Judentum zu messianischen Juden werden. Wenn „Gläubige aus den Heidenvölkern” heute mehr und mehr ihre jüdischen Wurzeln und eine Verpflichtung dem älteren Bruder gegenüber entdecken, und wenn sie dieser Erkenntnis dann durch eine enge Verbindung zur messianischen Bewegung Ausdruck verleihen, muss das heilsgeschichtlich als das beurteilt werden, was es ist, nämlich eine Bewegung Christus-gläubiger Menschen hin zum Judentum.

Baruch Maoz, Pastor in Rischon LeZion, beobachtet, dass „die Mehrheit der Juden innerhalb der messianischen Bewegung assimiliert waren.” Er stellt fest, dass „ihnen die traditionellen jüdischen Normen fast so wenig vertraut sind, wie der überwältigenden Mehrheit von Nichtjuden, die durch ihren Besuch messianischer Gemeinden ,Jüdisch-Sein‘ spielen.” In einer zur Kritik mutierten Analyse der messianischen Bewegung statuiert der profilierte Judenchrist:

„Messianische Juden überzeugen vielleicht Nichtjuden von ihrer Jüdischkeit, nicht aber Juden. Die messianische Bewegung hat das Prinzip des Paulus auf den Kopf gestellt. Anstatt ,den Juden ein Jude‘ zu sein, ist es den Heiden ein Jude.”

Die meisten jesusgläubigen Juden meint er außerhalb der messianischen Bewegung zu finden. Ohne hier auf Maoz‘ Kritik im Einzelnen eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass ein Großteil der messianischen Gläubigen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihr Jüdisch-Sein durch die Bekehrung zu Jesus Christus ganz neu entdeckt hat. Mancher Christ hat durch seinen „Blick für Gottes Handeln an Israel” seine eigenen jüdischen Wurzeln wiederentdeckt. Ständig sind in Israel Christen anzutreffen, die entweder auf der Suche nach ihrer jüdischen Abstammung sind, oder aber „genau wissen”, dass sie jüdisch sind, das „nur noch nicht beweisen” können. Dieser Trend soll hier nicht beurteilt werden. Allerdings sollte er auch nicht als etwas bezeichnet werden, was er nicht ist, nämlich eine Bewegung des jüdischen Volkes hin zu seinem Messias Jesus.